Wann ist ein Film ein Film? Große Erwartungen beim Columbus-Filmpreis – und eine Überraschung

Die Film-Jury 2018
Die Film-Jury 2018

Voll bepackt geht es nach Berlin zur Jurysitzung. Mehr als 50 Einreichungen sind in den letzten Monaten bei mir in der Produktion eingetrudelt, so viele wie noch nie in den letzten Jahren. Das Wetter passt auch: Der übliche graue Januarhimmel über Berlin, unser Sichtungsraum im Lindner-Hotel am Kudamm muss nicht extra verdunkelt werden, ideale Bedingungen um Filme zu schauen.

Von Thomas Radler

Gut ausgeschlafen geht es pünktlich um halb zehn los. Eine gute Stunde später macht sich leichte Ratlosigkeit breit. Von den ersten acht Filmen haben wir uns die obligatorischen ersten zehn Minuten angesehen, keiner schafft es in die nächste Runde. Ohne große Diskussionen, wir sind uns alle schnell einig, dass keiner der Filme Aussichten auf einen Preis hätte.

Liegt es vielleicht an uns? Nach den großartigen Produktionen aus den letzten Jahren sind die Erwartungen naturgemäß hoch. Kaffeepause, die nächsten Filme – und Erleichterung macht sich breit. Auch 2018 hat einiges zu bieten. Den Anfang macht ein alter Bekannter des Columbus-Filmpreises: Schmidt Max ist wieder einmal mit seinem Team vom Bayerischen Rundfunk unterwegs,
dieses Mal auf dem Alpe-Adria-Trail vom Gebirge ans Mittelmeer. Tolle Landschaftspanoramen, ein charmanter Host und viele scheinbar en passant eingefangene Begegnungen am Wegesrand, davon wollen wir morgen in der Endauswahl mehr sehen.

Einen ganz anderen Zugang haben Lisa Jandi, Franziska Wieland und Matthias Ebel. Für Ihre ZDF-Produktion „Sommer, Sonne Urlaubsglück?“ haben sie sich in ausgewählten touristischen Hotspots umgeschaut, wo der Massentourismus mittlerweile vom Segen zum Fluch geworden ist. In Thailand und Amsterdam genauso wie in einem einst verschlafenen Bergdorf in den Alpen, das
heute von asiatischen Touristen nur so wimmelt. Ein wichtiges Thema, das uns mit hoher Wahrscheinlichkeit in den kommenden Jahren noch intensiver beschäftigen wird. Auch hier wollten wir mehr erfahren, der nächste Platz für die Endrunde ist gebucht.

Und es gesellen sich weitere Kandidaten hinzu: „Mythos Gotthard – Pass der Pioniere“, eine 90-minütige Arte-Produktion mit großartigen Landschafts-Tableaus und elegant eingewobenem Archiv-Material. „7 Tage unter Pilgern“, der radikal subjektive Erfahrungsbericht einer jungen SWR-Filmemacherin vom oft bereisten Jakobsweg. „Ein Jahr auf Kihnu“ überzeugt mit guten Geschichten, einer unaufdringlichen Kamera und dem aufwändigen Ansatz, seine Geschichte einer entlegenen Insel in Estland stimmungsvoll über ein Jahr verteilt zu erzählen. Dazwischen wieder viel Leerlauf, zum Abschluss des Tages aber verblüfft uns dann ein absolut außergewöhnlicher Film: „Kamtschatka“ ist vier Minuten kurz. Vier Minuten, nach denen wir wie gebannt auf den Bildschirm starren.

Was war das denn? Unglaubliche Bilder, intensive Nahaufnahmen von Menschen (und Bären!), atemberaubende Totale aus der Luft und auf der Tonspur ein russischer Text (mit deutschen Untertiteln) wie ein Gedicht. Gemacht von Lars Böhnke, einem jungen Filmemacher, der den Film ganz allein realisiert hat, was die ganze Sache noch beeindruckender macht.

Um 19.30 Uhr ist die erste Sichtungsrunde beendet, Sonntag geht es dann mit der Endauswahl weiter. Jetzt schauen wir von allen in die zweite Runde gekommenen Filmen die jeweils letzten zehn Minuten. Bei „Kamtschatka“ ist das bei einer Filmlänge von lediglich vier Minuten nicht notwendig.

Eine Frage treibt uns um: Ist „Kamtschatka“ ein vollwertiger Film oder nur ein Trailer? Filmemacher Böhnke hat auch eine zweite zwölfminütige Fassung eingereicht, die ebenfalls sehr gelungen ist, aber nicht ganz so zu überzeugen weiß wie die ungleich intensivere Kurzfassung seiner Produktion. Wir stellen die Frage zurück.

Vielen Filmen geht im Verlauf der Erzählung die Luft aus, sie verlieren an Rhythmus und erzählerischer Dichte. Nicht so Schmidt Max. Seine Reise auf dem Alpe-Adria-Trail war für die Jury ein in zwei Teilen erzählter Reisefilm wie aus einem Guss, liebevoll, klug und von André Görschel (Regie), Ines Seiter (Schnitt) und Herbert Stiglmaier (Autor und Redaktion) mit extrem viel Liebe zum Detail und viel Humor gestaltet. Es ist bewundernswert, wie es dem Team um Herbert Stiglmaier seit Jahren gelingt, auf gleichbleibend hohem Niveau zu produzieren. Für „Schmidt Max wandert von den Alpen zum Meer“ gab es den silbernen Columbus für die beste Regieleistung des Jahres.

Ebenso überzeugend über seine gesamten 45 Minuten der kritische Blick auf die Kehrseiten des Massentourismus von Lisa Jandi, Franziska Wielandt und Matthias Ebel. „Sommer, Sonne Urlaubsglück?“ (Kamera: Nikolai Trawinski, Andreas Nebeling und Philipp Lückert, Redaktion: Nicolai Piechota) stellt die richtigen Fragen, verwebt die verschiedenen Schauplätze und  Problemstellungen in gut gedrehten Bildern zu einer dicht erzählten Geschichte. Und der Film malt nicht nur ein düsteres Bild, er skizziert auch erste Lösungsansätze. Dafür gab es den silbernen Columbus In der Kategorie Info/Ethik.

Und dann noch einmal nach Kamtschatka. Wann ist ein Film ein Film? Spielt es eine Rolle ob er vier, 45 oder 90 Minuten lang ist? Ganz bewusst haben wir vor einigen Jahren die Unterscheidung in Kurz- und Langformate beim Columbus-Filmpreis abgeschafft, warum also jetzt zweifeln?

Lars Böhnkes Film zieht uns auch beim zweiten Mal wieder in seinen Bann. Sogar noch mehr als bei der ersten Sichtung. Atemberaubende Bilder, eine dynamische Montage und der poetische Text entfalten einen außergewöhnlichen Zauber, der uns alle in der Jury nachhaltig beeindruckt.

Wir sind und einig: Das ist unser Gewinner des Hauptpreises. Einen Vorteil hat die ungewöhnliche Länge des Siegerfilms: Wir werden ihn alle gemeinsam in voller Länge bei der Verleihung der Columbus-Preise auf der ITB bewundern können.

Jury 2018

  • Nikolai von Graevenitz (Kameramann)
  • Carsten Heider (Regisseur)
  • Till Bartels (stern.de)
  • Richard Hofer (WDR / VDRJ)
  • Thomas Radler (Autor, Regisseur & Produzent, Geschäftsführer Filmpreis / VDRJ)

Der Columbus-Filmpreis wurde unterstützt von Lindner Hotels.

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