Die beste Reportage des Jahres 2021: „Schön ist die Welt!“

Blühende Kaktee am Plage Abel Baliff zwischen Nizza und Hyere bei Saint-Raphael in Frankreich
Blühende Kaktee am Plage Abel Baliff zwischen Nizza und Hyere bei Saint-Raphael in Frankreich

Was sich für den Autor nach einem langen Lockdown-Winter voller Angst und isolierter Vorsicht so abenteuerlich wie eine Mondreise anfühlte, transportiert für den Leser die ganze Euphorie des Reisens.

Text: Dimitrij Kapitelman

Schön ist die Welt!

Sommer, endlich. Lange war die Lust, einfach mal abzuhauen, nicht mehr so groß: Ab nach Italien mit dem Auto und immer die Küste entlang. Mindestens bis Barcelona. Ein Roadtrip 

Fünfzehn Kilometer legaler Radius, Eutritzsch, Mölkau, Paunsdorf – das war sie, unsere weite Welt in diesem Winter. Stephan, ein Mensch zum Anfreunden, und ich liefen letztlich sämtliche Stadtteile Leipzigs ab. Nur um aus dem Haus zu kommen und IRGENDETWAS NEUES zu sehen. Weideten unsere Augen an Fabrikhallen, Reihenhaussiedlungen, bettelnden Junkies, Plattenbauten und verriegelten Imbissbuden.

Endlich aber hat die Erde einen Dreh gefunden, um den Winter für ein paar Monate von Europa abzulenken. Und das Virus scheint angeschlagen. Zudem sind wir geimpft. Daher der vernünftige Vorschlag, wie folgt auszurasten: Ab nach Italien mit dem Auto und dann immer die Küste entlang, über Frankreich bis nach Spanien. Genua, San Remo, Nizza, was weiß ich, in irgendwelche märchenhaften französischen Fischerdörfer noch, wo die Forellen Chopin singen und die Dächer aus Tartelettes bestehen. In den Süden, wo die warme Luft die Menschen noch liebt, während sanfte Brisen ihre Schicksale wiegen. Provence, Pyrenäen, Costa Brava, bis nach Barcelona. Wenn wir den Weg vergessen, fragen wir das Meer. Der grandiose Ausbruch! Was sagst du, Stephan? Stephan sagt für einige Tage nichts. Denn eine Impfung gegen Furcht und gewisse Traumata dieser Zeit gibt es nicht. Selbst auf den Handschlag zum Besiegeln der Reise wird aus Hygienegründen verzichtet. Einer von uns beiden ist ein extrem verantwortungsbewusster Mensch.

Stephan sitzt am Steuer und durchleidet den etwa vierten Nervenzusammenbruch wegen des italienischen Verkehrs. Fahrspuren führen sich auf wie Luftschlangen, Ampeln bleiben Empfehlungen, Mopeds umschwirren einen wie Aerosole. Um dieses Chaos zu maßregeln, stehen an Genuas Piazza della Nunziata zwei Verkehrspolizisten, die eine Hand geschäftig in die Hüfte gestemmt. Mit der zweiten Arbeitshand rauchen sie eine Zigarette und unterhalten sich, wahrscheinlich über Fußball. Genua, das sich aus den grünen Bergen bis zum Meer senkt, Schicht um Schicht steiniger, bis hinunter zum Hafen, wo die Möwen am Ufer des Ligurischen Meers nach Kommunismus schreien, die Verladekräne und Kreuzfahrtschiffe besetzend – falls ich sie richtig verstanden habe. Herrlich ungerade, bleiche und bunte, manchmal bleichbunte, altehrwürdige Häuser mit grünen Holzläden vor den Fenstern. Alt und brüchig sind die Gebäude, edel und unsterblich bleibt die italienische Stadt. Nicht zu vergessen die Barockbauten und Palazzi, denen ich persönlich den Titel des Weltkulturerbes nicht absprechen würde. Stephan meint eher verhalten, dass eine italienische Stadt halt so aussehe. Dennoch: Genua ist nicht Böhlitz-Ehrenberg. Und wir haben das Reisen scheinbar ein wenig verlernt. Überfordert von so viel Radius an der Riviera. Vielleicht deshalb zuerst brav zur bekanntesten Sehenswürdigkeit trottend, der Kathedrale San Lorenzo. An deren Pforte die wohl traurigsten Steinlöwen wachen, die je ein Mensch für Gott skulpturiert hat. Rein, Fieber gemessen bekommen, goldene Decke und goldenen Jesus sehen, wieder raus. Unser großes Glück ist, dass wir uns bald verlaufen. Denn in Genuas engsten Altstadtgassen liegt die Weite des Entdeckens.

Dort geben die Gerüche fliegend die Lufthoheit aneinander ab. Gegrillte Garnelen, Waschmittel (ein bisschen tropft sogar die rausgehängte Wäsche über dem Kopf, auch schön), Parfüm, kurz Urin, wieder Parfüm und ein Hauch angebratener Knoblauch. Man weiß nie so richtig, wo die Gässchen einen hinführen. Vielleicht zu einer kleinen Kapelle, zuweilen zu einem Brunnen, zu Stufen in die Höhe, Stufen in die Tiefe, zu einem einsamen Obststand, einem Weinhandel (dem davorsitzenden alten Verkäufer scheint die Bedächtigkeit der alten Gemäuer ins Gesicht übergegangen zu sein). Oder aber man gelangt zu einem versteckten Restaurant, der Trattoria San Carlo beispielsweise. Wo eine Gruppe Genueserinnen bis ans Klischee köstlich speist. Und nicht minder wonnig eine Runde männlicher Genueser am Nachbartisch, inklusive des unentwegt gefütterten Pudels Pipo. Wein, Pesto, Thunfischtatar, Tomatenbrot, Espresso, leidenschaftliche Gesten mit den Händen, bei ebenso leidenschaftlichem Zigarettenrauchen aus beiden Nasenlöchern, Gesang. Wären nicht die Masken noch irgendwo am Kinn, was würde man von einer Pandemie spüren in dieser Szenerie? Und dann ist da noch Stephans Gesicht, samt mitgenommenen Augen aus dem Lockdownwinter. „Das ist das erste Mal Außengastronomie für mich seit anderthalb Jahren. Ich muss gerade so viele Ängste überwinden.“

Ich versuche, die Ängste und die Erleichterung in seinem Gesicht voneinander abzugrenzen. Aber das ist schwierig. Über Genua gäbe es noch so viel mehr zu sagen, die Hafenstraßen, wo afrikanische Schneider ganze Kontinente nachnähen können, die zu Museen gewordenen Paläste der Adligen, die alles übertönenden Fontänen der Piazza de Ferrari.

Ich würde kein Geld darauf wetten, dass in San Remo schon jemals etwas Übles passiert ist. Und wenn doch, hat es sich dieses Lieblingskind der Welt wohl kaum merken können. Wie auch? Wenn ich mitten in einer Bucht von den Alpen geschützt daläge, das ganze Jahr von mildem Klima verhätschelt, könnte ich mir auch nichts Mistiges merken. Nein, nach San Remo kommt die Vorsehung selbst zur Kur, um sich hübsch zu machen. Die Blumen bestehen auf buntere Blüten, die Möwen stolzieren frecher auf den Mopedsitzen herum, die Omas gehen furchtlos wie nirgends über die Straße, obwohl die Autos ruchloser fahren. Und die Jugend tanzt nachts in den Straßen ausgelassener aufeinander zu. Bis die zwei Carabinieri ihr mit großem Lamento erklären, dass das in diesen Zeiten eben nicht gehe.

Oder nehmen wir das berühmte Casino der Stadt. Ein roter Teppich führt über viele Stufen zu einem präsidialen Prachtbau, an dessen Eingang zwei EU-Fahnen und natürlich auch die italienische Flagge wehen. Suggestion: Hier unterschreibst du einen Weltfriedensvertrag, und dann spielen wir eben noch ein wenig Blackjack. Wenn man als Verlierer rauskommt, wartet am Ausgang immer noch der Küstenstreifen und versichert: Die Welt ist trotzdem schön. Und wenn man gewinnt … Was rede ich, natürlich gewinnt man in San Remo. Alle gewinnen in San Remo.

Am Strand beobachte ich einen alten Herrn, der mit einem Krückstock durch schenkelhohes Wasser läuft, um das malade Bein wieder zu kräftigen. Selbst Rekonvaleszenz sieht hier nach Erfolgsgeschichte aus. Und dann blicke ich zu Stephan, der wohlig in einem ausrangierten Boot döst. In ihm reift in diesen Minuten bereits der Entschluss, sich mal wieder mit gutem Wein zu betrinken. Wie früher. Ich helfe, wo ich kann.

Ein Spiel, um uns auf der Fahrt nach Nizza wach zu halten: „Ich gründe ein kriminelles Corona-Testzentrum und stelle rein: eine goldene Jens-Spahn-Statue …“ In diesem Augenblick kommt nach einer Kurve Nizza in der Ferne zum Vorschein. Ein pastellfarbenes Gedicht von Stadt an kristallblauem Meereswasser. Sagenhaft. Schöner sogar als Südschönefeld. Stephan und mir verschlägt es kurz die Sprache. Gleichzeitig wird diese beschissene Zeit im Verschlag des Lockdowns spürbar. Denn die Welt war ja die ganze Zeit da und begehrenswert. Nicht dass sich daraus eine bestimmte Konsequenz ziehen ließe. Die Wucht verwehrter Lebenszeit schlägt einfach kurz sehr leidenschaftlich zu. Und auch die Erleichterung darüber, fürs Erste etwas von ihr wiederbekommen zu haben. Beides ist recht deutlich in unseren Gesichtern erkennbar. Dann geht es weiter: „Ich gründe ein kriminelles Corona-Testzentrum und stelle rein: eine goldene Jens-Spahn-Statue, einen Ferrari …“

Über Nizzas Architektur, die Bauten der Belle Époque zu schreiben – wer hat Zeit dafür? Für alle Türmchen, die wie Sahne auf den Häusern liegen, Traumfassaden, klassizistischen Könnereien. Was, wenn sogar das Postgebäude in der Rue Foncet aussieht, als könnte es ein Staatstheater sein? Lachhaft imposant alles. Was wollen Sie also noch von mir hören? Fein, bitte, die ganze Wahrheit: Wenn ich könnte, würde ich reich in Nizza auf die Welt kommen. Und mir im Hipsterviertel um die Place du Pin ein Marmor-Skateboard kaufen. Oder wenigstens arm in Nizza auf die Welt kommen. Um von den vielen perfekt gestylten Brigitte Bardots in den Boulangerien abzuschauen, wie man ein Croissant richtig hält. Mit zwei Fingerspitzen nämlich, es kaum berührend. Die restlichen Finger, die ganze Hand eigentlich, wichtig und weit wegstreckend. Vielleicht würde ich dann abends in einem der grandiosen Hotels an der Promenade des Anglais anheuern. Für die Beletage Delfine dressieren oder Seeteufel beschwören. In einem dieser breit bestrahlten, nach Legenden lechzenden Promenadenhotels, die sich selbst als eine Stadtattraktion verstehen, nicht als bloße Übernachtungsmöglichkeit. Nach Feierabend würde ich die festliche Azurluft der Promenade inhalieren. Denn ganz selbstverständlich ist immer wieder etwas festlich in Nizza, Festlichkeit sammelt sich an allen Eckchen an wie Pfandflaschen in Leipzig-Lindenau. Manchmal ist es ein junges Pärchen, das vom Moped aus jubelschreit. Oder ein Tross weißer Cabriolets. Es kann aber auch ein kleines Privatfeuerwerk am Strand sein, en passant um 22.53 Uhr.

Einerseits. Andererseits wird all der Stadtprunk so krass egal, wenn man an den roten Felsen der Côte d’Azur vorbeigefahren kommt, dem Massif de l’Esterel. Zwischen einhundert verschiedenen Blautönen und ebenso vielen Unendlichkeiten am Horizont liegt dieses rote Gestein. Auch unterhalb des Wassers, sodass das Meer zu glühen scheint. Bis sich der Himmel zur Röte herablässt und alles brennend im Sonnenuntergang zerfließt. Als hätten Stephan und ich einen unausgesprochenen Befehl erhalten, parken wir das Auto und versuchen, so viel von diesen Augenblicken in uns reinzusehen, wie nur geht. Gierig nach dem Moment und doch kurz vollkommen bedürfnisfrei.

Das französische Meeresmärchendorf trägt den Namen Hyères. Sicher, bei der Schiffsrundfahrt um die benachbarten Inselgrüppchen schnappt ein Schäferhund nach Stephan (der konnte das, als einziger Unmaskierter an Bord). Aber das kommt natürlich in den besten mediterranen Märchen vor. Die Forellen singen keinen Chopin, doch der Kleiderhändler an der Rue du Vieux Cimetière pfeift den Boléro von Ravel. Und beim Biscuiteur nebenan steht eine Frau mit tartelettegoldenem Sommerkleid für Gebäck an.

Oh Hyères, ich glaubte fest, mein imaginäres Zweitleben in Frankreich gebühre Nizza, dann kamst du. Deine Altstadt ist eigentlich die bescheidenste bisher. Aber so phänomenal desinteressiert an Geradlinigkeit und Strenge. Und so gesellig rund um die berstenden Brasserien am gesellschaftlichen Epizentrum, der Place Massillon. Es gibt Orte, die sind zwar real, aber noch etwas realer wären sie als Gemälde. Denn es ist letztlich ihr Geist, der sie ausmacht, nicht das Gebaute. Und Hyères ist so ein Gemäldeort im Geiste.

Wieder unterwegs, das Meer rast vor Schönheit, die Berge zeigen dem Himmel grünes Licht, die Straße ist frei, und mein Freund steuert auf die Beseeltheit zu. Lässt plötzlich das Lenkrad los, rudert mit den Armen, stampft mit den Füßen und ruft lachend: „Jetzt fahre ich nicht, jetzt laufe ich Auto.“ (Vor wenigen Tagen umklammerte er das Lenkrad noch wie einen Rettungsring.) Überhaupt sind wir inzwischen in einem begrüßenswerten Zustand idyllischer Verblödung angelangt. Weil die Augen Kilometer um Kilometer schlicht überfüllt werden von der Schönheit der Landschaft und weil man unausweichlich dumm davon wird, alle zwanzig Sekunden aufzusagen: Wow, wie schön es hier ist, wow, wie schön es hier ist.

In Cadaqués, einem ehemaligen Fischerdörfchen in Kataloniens Norden, entwickelt nun wiederum Stephan Fantasien von einem Zweitleben. Vielleicht weil die Berge ringsherum noch etwas mehr den Verstand verstellen. Oder weil es so unwirklich harmonisch anmutet, dass alle Häuschen im Ort weiß sind. Die vielen Spruchbänder, die nach katalanischer Autonomie und Freilassung aller politischen Gefangenen rufen, zeigen zwar, dass es mit der Hyperharmonie so eine Sache ist. Aber wir sind Touristen, wir sind für süßliche Überprojektionen hier.

Salvador Dalí, selbst ein Großmeister der Überprojektion, hat hier seinen Traum von einem fantastisch künstlerischen Zuhause wahr gemacht. Man hat ihm sogar ein Denkmal am Ufer gewidmet. Wir bemühen uns, sein etwas abgelegenes Haus aufzusuchen, schmelzen allerdings in der Tageshitze um ein Haar selbst zu einem Dalí-Gemälde. Am Abend aber, einem dieser so süchtig machenden mediterranen Abende, wenn die Luft einen liebt und die Brisen das Schicksal schaukeln, reiben sich Wildschweine an Dalís Statue. Drei Tiere sind nach Cadaqués kommen, um wiederum ihre Vision vom süßen katalanischen Fressleben zu verwirklichen. Und wir sitzen lachend keine zwei Meter daneben. Ist das nicht toll, Stephan? Nun sind wir für immer Teil jenes Tages, an dem sich die Wildschweine von Cadaqués am Surrealismus vergingen. Wir sind Zeugen. Ich liebe das am Reisen, Teil von Begebenheiten zu werden, mit denen ich normalerweise nichts zu tun haben würde. Mir hat diese Querverstreuung des Seins so krass gefehlt im Lockdown.

Stephan hechtet einige Meter zur Seite, als eines der Dalí-Schweine doch recht nah an uns herankommt. Ruhig und Social-Media-erfahren, zumindest scheint es die Tiere nicht zu stören, dass so viele Menschentiere sie belustigt filmen. Dann sagt Stephan: „Kennst du das, wenn du erst beim Trinken merkst, dass du wahnsinnigen Durst hattest? So geht es mir mit diesem Trip.“ Von all unseren Ängsten und Manien, unserer Verstörtheit vom Virus ist immer weniger übrig. Und ich schreibe das nicht, weil eine Reisereportage dumm dastünde, wenn ihre Helden am Ende infiziert an der Autobahn erstickten. Sondern weil es genauso ist.

Daher herrscht ein wenig Katerstimmung am letzten Tag in Barcelona. Ist der Durst doch kaum gestillt und die immer volle Weltflasche morgen mit dem Mietwagen abzugeben. Wo sind unsere acht Reisetage hin? Vor acht Tagen hatten wir doch noch acht! Ich für meinen Teil richte diese Unzufriedenheit gegen die Architektur von Antoni Gaudí. Für dessen Bauwerke Barcelona berühmt ist. Seine phänomenal extravagante Kirche, die Sagrada Família, beleidigend: „Aha, so sieht es halt aus, wenn man Ed Hardy ein Gotteshaus bauen lässt.“ Tattookünstler Hardy statt Architekturkünstler Gaudí, extrem witzig, sich so lustig zu machen, auch noch im von Gaudí angelegten Park Güell, mit irrem Panoramablick über die ganze Stadt. Stephan fühlt Barcelona etwas mehr, ist aber trotzdem seltsam verschwiegen.

Doch dann schleicht sich Barcelona an. Und wie. Erst ganz subtil mit seinen violett blühenden Jacarandabäumen vor den Cafés; mit munter schnippelnden Mittfünfzigern, bei deren Kochkurs in der Carrer de Bruniquer wir durch eine Fensterfront zuschauen; mit sehr, sehr ernsthaft Basketball spielenden Schulmädchen, Punktspiel unter einem Sonnensegel. Bald kolossal entlang der Boulevards, auf denen es alle Menschen gibt; und in den pulsierenden Seitenstraßen, in denen es noch mal alle anderen Menschen gibt. Den einen Moment kommt dir ein Mann mit den durchtrainiertesten Oberschenkeln entgegen, die du je gesehen hast. Und gleich hinter ihm eine Hühnerbrust mit tausendfach gepiercten Ohren. Die schönste Frau der Welt serviert Tapas, für eine ganz schön durchoperierte Dame. Drei bedächtige Männer im konservativen Kaftan und hinter ihnen drei Arabisch sprechende junge Männer mit Pfauenfrisuren, deren Spitzen blondiert sind. Wild ist es hier, und die Nacht wird sich das bald zunutze machen. In der Carrer de Joaquín Costa herrscht Festivalstimmung, die ansteckt. Aber eben auch anstecken könnte. Deshalb trägt die Metropole tagsüber doch noch Maske. Stephan und ich bleiben pandemische Partypuper und laufen zurück zum Hotel. Eine extra lange, vielleicht fünfzehn Kilometer lange Route wählend. Um einen kaum in Worte zu fassenden Ausbruch doch noch nicht abbrechen zu lassen.

Dimitrij Kapitelman
Dimitrij Kapitelman

Die Reportage „Schön ist die Welt!“, erschienen im Juni 2021 in der Wochenzeitung „Die Zeit“, wurde mit dem Columbus Autorenpreis 2021 in Gold für die „Beste Reportage“ ausgezeichnet. Mehr zum diesjährigen Autorenpreis-Jahrgang und der Arbeit der Jury finden Sie hier.

Dieser und alle weiteren ausgezeichneten Beiträge der Columbus Journalistenpreise der VDRJ für das Erscheinungsjahr 2021 für Text, Radio sowie Film sind hier auf einen Blick zum Nachlesen, Reinhören und Anschauen online verfügbar.

Wir danken dem Sponsor der Columbus-Autorenpreise 2021

 

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1 Kommentar

  1. Wenn die Worte fehlen
    Ja, wie schön ist die Welt, ist das Leben. Nicht erst seit Blumfeld („Ich ging nur, um zu gehen…und Schatten tanzten mit dem Wind: Die Welt ist schön“); nicht nur bis zu Benignis rettender Überlebenslüge „La vita è bella“ im mordenden KZ-Terror; nicht nur in Armstrongs „Wonderful World“ von Bob Thiele und George Weiss.
    Sondern auch bei Dimitrij Kapitelman, dem Gewinner des VDRJ-Autorenpreises 2021. Nicht allein seine Welt ist schön. Unser aller Welt ist schön. Das habe ich gerade wieder beim Lesen seines preisgekrönten ZEIT-Artikels erlebt. Dieses Bekenntnis ist kein euphemischer „Ich-möchte-dich-einfach-so-sehen“-Trotz. Und keiner muss erst durchs Feuer gegangen sein, um – gerettet – danach erst mit offenen Sinnen durch die Welt zu laufen und bei und für sich zu erkennen: Ja, diese Welt ist wirklich schön. Nicht perfekt, nicht absolut, nicht unendlich und nicht das Maß aller Dinge, das wir den Märchen und Träumen vorbehalten. Aber sie ist wunderschön.
    So, wie Dimitrij Kapitelman sie ohne Rosa Brille beschreibt, so herrlich fassbar, gründlich schräg, tollpatschig grandios, so zauberhaft bunt und so scheu und doch berührbar. Und auch er weiß natürlich von ihren Schrunden, Katastrophen, dem Tod und der Trauer, dem Eiter, der Gewalt, der endlosen Erosion des Guten. In dieser Widerspruchswelt reisen wir umher und berichten von dem, was wir sehen. Wie wir was sehen, was hinter dem ist – oder zu sein scheint. Wenn wir was sehen.
    Kapitelman sieht mit allen Sinnen und entscheidet sich; seine, unsere, Welt lacht sich eins mit ihm ins irdische Fäustchen, und beide rülpsen gemeinsam im Prosecco-Stakkato mit sinnlichem Konfetti gefüllte Kohlesäure-Bubbles in die Luft. So ist es für mich auch eine der schönsten reisejournalistischen Möglichkeiten, über das Glück des Reisens zu berichten. So fern vieler pseudo-informativer Füllsel allgemein im Reise-Journalismus, wohltuend abseits der langweiligen und ganz und gar nicht interessanten und aufallenswerten „Und-auch-das viel-mir-noch-auf“- Fundstücke, oft auf Seiten, die eigentlich die ganze Sprachfülle zuließen, irritierende Beispiele für ein Worte- und Wörter-Prekariat.
    Dimitrij Kapitelmans Schöne Welt ist gelebte, lachende Literatur und Journalismus in einem. Und die Frage im Interview, wie sich denn diese beiden Professionen mit einander verbinden lassen, kann man doch nur stellen, wenn man beides getrennt sieht, als seien es Antagonisten. Sind sie aber nicht. Zum Glück. So wenig wie die „Maghrebinischen Geschichten“ von Gregor von Rezzori oder Fontanes „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“, Axel Munthes „Haus von San Michele“, Annette von Droste-Hülshoffs „Westfälische Geschichten“, Paul Austers „New York Trilogie“ oder George Sands „Winter auf Mallorca“. Undundundundund. Nur erleben wir das zu selten. Ist ja alles bei Google. Oder von gestern. Da triggert nix mehr. Und wir haben sowieso keine Fragen. Oder uns fehlen – mal wieder – die Worte.

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