Columbus Nachwuchspreis: „Komm ich damit nach Berlin?“

Auf dem Roller nach Berlin
Auf dem Roller nach Berlin

Der Autor stieg in Hamburg auf einen E-Roller und fragte sich: „Komm ich damit nach Berlin?“ Er stürzt sich in ein Abenteuer vor der Haustür in dieser abenteuerlosen (Pandemie-)Welt

Text: Maximilian König

Komm ich damit nach Berlin?

In der Stadt verstopfen sie nur die Wege. Warum also nicht einfach mal raus, von Hamburg bis in die Hauptstadt: 306 Kilometer, vier Tage, fünf Bundesländer. Eine Pionierfahrt mit dem E-Roller

Der Fahrer hält an der Hamburger Stadtgrenze. An einem Brombeerstrauch laden wir den Roller aus dem weißen Van. Während der Fahrt ist er umgekippt. Macht nichts, sagt der Fahrer. Den Dingern passiert Schlimmeres.

Was kann mir in den nächsten Tagen alles passieren? Im Kopf bin ich die Szenarios durchgegangen: Achsenbruch. Knochenbruch. Dauerregen. Verkehrsunfall. Meine Mutter schickt mir eine letzte Nachricht: Pass auf dich auf, melde dich jeden Abend. Ich trage fünf Oberteile, eine lange Unterhose, doppelt Socken.

Der Roller steht. An seiner Lenkerstange baumeln zehn Kilogramm Gepäck. Befestigt mit Spanngummis und Geschenkbändern. Wir schauen uns EFY 045, so steht es auf dem Nummernschild, ein letztes Mal prüfend an. „Alter, wenn du das auf TikTok aufnimmst, das würde so viral gehen“, sagt der Fahrer. Dann steigt er in den Van und lässt uns zurück, EFY 045 und mich.

Vor uns liegt ein langer Weg: 306 Kilometer, vier Tage, fünf Bundesländer. Ein Abenteuer. Eine Pionierfahrt. Die erste Reise auf einem E-Scooter von Hamburg nach Berlin.

Der Gedanke kam mir, als ich neulich diese Meldung las: Ein 24-Jähriger fuhr mit einem E-Scooter auf die Autobahn. Mit 20 km/h zuckelte er über die A 2 von Bielefeld-Süd nach Bielefeld-Ost, bis die Polizei ihn stoppte. Er sagte aus, er habe bloß die Reichweite testen wollen.

Das ist natürlich einigermaßen irre. Aber auch ein bisschen visionär. Wäre es nicht an der Zeit, die E-Roller als Fernreisefahrzeuge zu etablieren? In den Städten verstopfen sie unsere Gehwege, wir stolpern über sie oder werden abends von betrunkenen Teenagern umgefahren. Auf der langen Strecke könnten sie ihre Vorzüge zeigen: emissionsärmer als Auto und Bus. Pünktlicher als die Bahn. Mehr Swag als Elektrofahrräder. Ich kontaktierte zwei E-Scooter-Verleiher, deren Roller mit Wechselakkus laufen. Der US-Hersteller mit der Limette im Logo sagte zu.

Versucht, das weiß ich mittlerweile, wurde so etwas mit einem Leih-Scooter noch nie. Die durchschnittliche Fahrstrecke von Rollernutzern beträgt zwei Kilometer. Ich plane mit 80 Kilometern pro Tag. Das entspricht drei Akkuladungen; deshalb habe ich zwei schwere Reserve-Akkus in der Fahrradtasche am Lenker. Ich zurre die Bänder noch einmal fest und hoffe, sie halten das aus. Rucksack auf die Schultern, Daumen aufs Gas, damit beginnt meine Reise.

Kilometer 1: Rollt.

Kilometer 3: Erstes Hochgefühl. Der Morgentau glitzert in der Sonne, Einfamilienhäuser ziehen vorbei, die Stadt verschwindet. Der Roller surrt – ich summe.

Kilometer 5: Passanten-Check. Straßenfeger hören auf zu fegen, Landschaftsgärtner hören auf zu gärtnern, Rentner machen Platz. Blicke: belustigt, skeptisch.

Kilometer 13: Straßenkreuzung in Geesthacht. Eine E-Bike-Fahrerin hält neben mir. „Na, auch elektrisch unterwegs?“, flöte ich. Sie lacht und düst ab.

Kilometer 17: Eine Frau mit einem filzigen Dutt schiebt ihr Fahrrad neben der Landstraße nach Lauenburg. Sie inspiziert meinen Roller. „Da muss man ja die ganze Zeit draufstehen – das ist ja scheiße, würde ich nicht machen.“ Dann sagt sie: „Du wirst unterwegs eine Eingebung haben.“ Und: „Glaubst du an Jesus?“ Ich muss leider weiter.

Kilometer 22: Eicheln knacken, Blätter rascheln, Pfützen spritzen. Erster Boxenhalt. Handgestoppter Akkuwechsel: 30 Sekunden.

Kilometer 40: Ich mache Rast in Boizenburg, linkselbisch. Altstadt mit rollerunfreundlichen Pflastersteinen. Am Marktplatz gehe ich in ein Café und schließe meine Akkus ans Stromnetz an. Verwirrung unter den Gästen. Ein Mann fragt, ob das Mausefallen seien.

Um Zeit totzuschlagen, starte ich ein Sozialexperiment und stelle den Roller mitten auf dem leeren Marktplatz ab. Werden die Leute versuchen, sich einzuloggen? Den Roller klauen? Die Boizenburger halten ehrfurchtsvoll Abstand. Ein älterer Herr schreitet den Roller ab wie einen Monolithen. Keiner schaut auf seinem Handy nach, ob er verfügbar ist.

Kilometer 50: Deich, Deich, Deich, so weit das Auge reicht. Was Spaß bringt: Radfahrer laaangsam überholen, während sie gegen den Wind strampeln. Kann schon mal fünf Minuten dauern, so ein Überholvorgang. Beschwichtigender Blick nach rechts: Entschuldigung, ich kann halt nicht schneller!

Kilometer 60: Der Fluss funkelt in der untergehenden Sonne. Noch 20 Kilometer bis zu meinem Tagesziel Hitzacker, noch eine Stunde, bis die letzte Fähre dorthin ablegt. Ich erwische sie nur, weil ich den Fährmann am Handy anbettele, auf mich zu warten. James-Bond-Stunt-Flug aufs Deck. An Bord schaut er sich meinen Roller an. „Joah, wo soll man da die Grenze ziehen?“ E-Scooter hat er nicht auf seiner Preisliste. Ich gehe als Radfahrer durch und zahle 2,80 Euro.

Kilometer 82: Wolkenverhangener Tagesstart. Gesundheits-Check-up auf dem Roller: Schultern okay, Rücken okay, Daumen reagiert auf Belastung. Er muss ja das Gaspedal, den Schalter am Lenker, immerzu drücken. Zeit für einen Life-Hack: Haargummi um den Griff spannen. Sitzt. Mein selbst gebauter Tempomat hält den Roller konstant auf den maximal zugelassenen 20 km/h. Die Zukunft des autonomen E-Scooter-Fahrens beginnt.

Kilometer 92: Sensation in Klein Gusborn. Ich begegne einem Mann mit einem schwarzen E-Roller. Sein eigener, kein Leihmodell. Ralf ist geschätzt Mitte 40, er trägt ein T-Shirt mit Germany-Aufdruck und eine Halskette mit einem silbernen Penis. Er zeigt auf meine Lenkerstange. „Das da kann man alles abbauen, und dann ist der Roller in fünf Minuten geklaut“, sagt er. In Berlin habe er die Dinger mal für einen Anbieter repariert. Sein eigener schaffe 40 km/h – „mit Software-Update“. Ist das erlaubt, Ralf? „Nicht wirklich.“

Kilometer 107: Pause in Gorleben, Akku aufladen im Informationszentrum der Bundesgesellschaft für Endlagerung. Es informiert über „unser Zwischenlager“. Die zehnte Klasse der Oberschule Gartow schaut sich den Querschnitt eines Castorbehälters an. Im Hintergrund piepst ein Geigerzähler. Laden meine Akkus hier mit Ökostrom? „Glaub ich nicht“, sagt die Leiterin.

Kilometer 124: Ein Schild verkündet das „Naturerlebnis Grenzland“. Die Landschaft wird karger. Ich fahre eine halbe Stunde einsam über Betonplatten, an einem ehemaligen Wachturm vorbei, an verrammelten Gasthöfen, bröckelndem Putz. Schäferhunde laufen mir hinter Zäunen bellend nach.

Kilometer 146: Vor einem Natursteinverkauf steht ein weißer VW E-Golf an einer Ladesäule. Im Auto hört ein Mann Musik und nickt im Takt. Ich klopfe ans Fenster, die Scheibe fährt runter. Er schaffe eine Vollladung in 45 Minuten, das reiche für 230 Kilometer, sagt er. Ich erzähle ihm, wie weit ich mit meinem Roller-Akku komme. Er fragt, ob er mich mitnehmen soll.

Kilometer 161: Ein letzter Ritt auf dem Deichkamm, dann abbiegen nach Werben. „Alter, wat is dit denn für ein Teil!“, ruft die Angestellte. Sie schließt mir die Pension zum Biedermeier auf und geht wieder. Ich bin der einzige Gast in einem alten Fachwerkhaus mit knarzenden Dielen. Es ist gruselig. Im Schlafzimmer wünsche ich mir, mein Scooter läge neben mir.

Bergfest, Zwischenfazit. Wenn ich durch Nienwalde oder Pisselberg scootere, fühle ich mich wie ein Gesandter aus der Zukunft. Die Leute unterbrechen ihre Gespräche, gucken mir nach. Wenn sie vom großen Ziel hören, lachen sie, manche glucksen. „Berlin? Aber nicht mit dem Ding?!“ Einige hätten selbst gern einen E-Scooter. Weil der Bus so selten kommt. Weil es cool aussieht. Auf dem Land wird dem E-Roller der Respekt entgegengebracht, den er in der Stadt schon längst verloren hat.

Kilometer 169: Zweite Elbquerung bei Räbel. In der Kabine des Fährmanns hängen nackte Playmates. Aus meinem Roller „machen wir ’n Fahrrad“. Ein Vogel steigt aus dem Wasser auf. „Is ’n Silberreiher – die haben gerade Brutzeit.“

Kilometer 172: Havelberg! Bald nur noch 100 Kilometer bis Berlin. Euphorisch rolle ich auf den Marktplatz und zirkele den Bratwurststand ein.

Kilometer 187: Im Sinne der Geschichte wäre es gut, wenn ich jetzt mal irgendwo stranden würde und mit blinkenden Batterien bei einer Familie um Strom betteln müsste. Das passiert nicht. Aber am Vormittag schüttet es heftig. Ich ziehe mich in die achteckige Fachwerkkirche in Garz zurück und lade die Akkus in Sichtweite des Altars. Falls Sie mehr Spannung wollen, springen Sie vor zu Kilometer 241.

Kilometer 199: Freitagnachmittag im Restaurant Zur Linde in Schollene. Deutsche Küche, Bauernfrühstück mit Gewürzgurken. Es wird gequalmt. Männer in angestaubten Westen kommen rein, wollen „vorglühen“. Ich verteile meine Akkus im Raum und frage die Wirtin, ob sie sich vorstellen könnte, aus der Linde eine E-Scooter-freundliche Gaststätte zu machen. Sie blickt auf die leuchtenden Ladegeräte. „Warum nicht? Geht ja über normale Steckdosen.“

Kilometer 233: Das wunderschöne Dorf Kotzen.

Kilometer 241: Der Mond ist da, aber meine Unterkunft noch zehn Kilometer weit weg. Google Maps schlägt vor, ich solle ein kaputtes Maschendrahttor passieren, auf dem „Passieren verboten“ steht. Der Pfad ist vergrast und führt zu einer Ruine. Ich fahre lieber einen Umweg. Durch ein Waldstück, es ist finster, die Bäume wölben sich gespenstisch über den Weg. Ich komme auf einer Bundesstraße ohne Radweg raus. Sie ist komplett schwarz; das Licht meines Rollers reicht keinen Meter weit. Der erste Thrill. Dann ist die Abzweigung zu meinem Quartier gesperrt wegen einer Baustellenzufahrt. Trotzdem durch da. Endlich komme ich am Kinderbauernhof an – und falle ins letzte freie Bett in Ribbeck.

Der Nachteil an Kindern als Gästen ist, dass sie schon sehr früh wach sind. Max und Aura streiten sich vor meinem Zimmer um einen Sandeimer. Am Frühstückstisch geht es darum, ob heute die Matschhose angezogen werden soll. Ich überlege, was ich für meine Triumphfahrt durchs Brandenburger Tor anziehe.

Kilometer 244: Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland / Ein Scooter in seinem Garten stand. Den Birnbaum aus Fontanes Gedicht gibt es nicht mehr. Die Nachpflanzung sieht noch etwas schmächtig aus.

Kilometer 268: Nach Bredow. Über eine Buckelpiste, mit Matsch gefüllte Schlaglöcher, ich gehe in die Hocke wie ein Skifahrer. Bloß keinen Achsenbruch jetzt.

Kilometer 270: „Nach Berlin? Mit ’n Roller? Wie viel fährt dat denn? Dahinten jeht’s zur Bahn, dat sind keene 30 Minuten, dann biste da.“

Kilometer 274: Ich gleite, ich cruise, ich surfe über den Asphalt.

Kilometer 277: Ich treffe Paul, 18, und Lars, 17. Sie machen mit ihren Rädern Rast unter einem Baum. Wir vergleichen unsere Tourdaten. Sie sind auch aus Hamburg. Sie wollen auch nach Berlin, unters Brandenburger Tor, wie ich. Sie sind vor vier Tagen losgefahren, wie ich. Damit ist der Beweis erbracht, dass der E-Scooter mit dem Fahrrad mithalten kann.

Kilometer 282: Parkstadt Falkensee: vorbei an Gassigehern, Nordic-Walkerinnen. Die Leute erkennen meine Scooter-Marke jetzt – „Aber die Dinger gibt’s doch nur in Berlin?“

Kilometer 289: Ich habe das Ortsschild „Berlin“ gerade passiert, da liegen sie direkt vor mir im Grasstreifen: E-Scooter der Konkurrenz, lieblos hingeworfen.

Kilometer 291: Spandau, es wird städtisch. In einem Park fahre ich mit meinem Roller in eine Halfpipe. Jungs in Skaterschuhen steht der Mund offen. Ich komme die Rampe mit meinem Gepäck aber nicht hoch.

Kilometer 293: Ich fahre fast einen Mann um, er springt erschrocken zur Seite. Bin ich einer dieser E-Scooter-Rowdys geworden? Ich entferne das Haarband, meinen selbst gebastelten Tempomaten.

Kilometer 303: Mitarbeiter meiner E-Scooter-Firma schicken mir Nachrichten: Zielfahnen, Siegerfäuste – you’ve made it!

Kilometer 306: Tiergarten. Siegessäule. Fanfaren in meinen Ohren.

Unter dem Brandenburger Tor stehen tatsächlich Lars und Paul aus Hamburg. Sie wollten in dem Moment aufbrechen, als ich ankomme. Wir machen Erinnerungsfotos, dann rolle ich auf die Ostseite des Brandenburger Tors. Ich fahre in einen Heiratsantrag, ein Mann in Jogginghose, mit Cap, hält um die Hand seiner Freundin an. Jugendliche spielen Fußball, Touristen machen Selfies. Eine Kutsche fährt vor, eine Gruppe protestiert meditierend gegen die chinesische Regierung, vier Schweizer leihen sich zwei E-Scooter. Als ich von meiner Tour erzähle, rufen sie: „No way!“

Angekommen in Berlin
Angekommen in Berlin

Ich entkleide meinen Scooter, nehme die Taschen mit den Wechselakkus ab, binde die Geschenkbänder los. EFY 045 ist nun ganz nackt. Man sieht ihm die Strapazen unserer Reise an: An der Lenkerstange ist Lack abgesplittert, Erde klebt am Rollerbauch, die Räder sind schlammverkrustet. Ich halte einen Moment inne. Dann lasse ich ihn einfach stehen. Die Route ist eröffnet.

Maximilian König; Foto: Maria Rohweder
Maximilian König; Foto: Maria Rohweder

Die Reportage „Komm ich damit nach Berlin?“, erschienen im November 2021 in „Die Zeit“, wurde mit dem Columbus Nachwuchs-/Förderpreis für junge Autor:innen 2021 ausgezeichnet. Mehr zum diesjährigen Autorenpreis-Jahrgang und der Arbeit der Jury finden Sie hier.

Dieser und alle weiteren ausgezeichneten Beiträge der Columbus Journalistenpreise der VDRJ für das Erscheinungsjahr 2021 für Text, Radio sowie Film sind hier auf einen Blick zum Nachlesen, Reinhören und Anschauen online verfügbar.

Wir danken dem Sponsor der Columbus-Autorenpreise 2021

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