Man muss sich das vorstellen: tatsächlich in Deutschland! Umgeben von Hochtechnik, monetärem Rationalismus und intellektueller Zweckdemokratie gibt es so etwas wie Sinnesverführung.
Als Reisejournalist ist man ja etwas gewohnt: meist himmelhoch jauchzend und kaum noch zu Tode betrübt. Unsere Welt ist längst aufgeteilt und katalogisiert, woraus sich wiederum die profanen Kategorien ergeben. Und wir wissen: Große Dinge geschehen in großen Welten.
Doch hier: Ich fühlte mich zumindest in zwei irrationalen Zwischenwelten, die – eigentlich – so nicht zusammen passen. Das einzige Bindemittel ist das Märchen (aber bitte: nicht das Märchenhafte!), das keiner Logik bedarf.
Ortsbeschreibung: Schon eine heute 291 Jahren alte Quelle beschreibt das so: „Wie sollte ich auf das Fuhrwerk gehoben werden? Achtzig Pfähle von einem Fuß Höhe wurden zu diesem Zwecke eingerammt…An den Pfählen hingen diese Stricke auf Rollen; neunhundert der stärksten Männer wanden diese auf. Somit wurde ich in ungefähr drei Stunden emporgehoben, in die Maschine geworfen und dort festgebunden.“
Und, um in der Metrik zu bleiben, zugleich in selbiger Quelle das Antagonistische: „…ich befand mich in einem riesigen zwei- oder dreihundert Fuß großen und mehr als zweihundert Fuß hohen Zimmer…“
Kein Zweifel: hier handelt es sich um auch heute noch gültige kohabitierende Gegensätze in den Städten Mildendo und Lorbrulgrud.
Ich gebe zu, dass wir Reisejournalisten – leider – nie oder kaum jemals aufbrechen in diese beiden Hauptstädte. Sie liegen nun einmal nicht auf der normalen Wegekarte, Mildendo, die Kapitale von Liliputh, und Lorbrulgrud auf der Nachbarinsel Brobdingnag.
Lilitputh und Lorbrulgrud
Obwohl so vieles – mit kleinen der Entwicklung geschuldeten Korrekturen – noch heute gilt, wenn man liest: „Das Volk zeichnet sich durch mathematisches Wissen aus und hat es zu einer großen Vollkommenheit in mechanischer Arbeit gebracht…(der Kaiser) lässt seine größten Kriegsschiffe verfertigen und dann auf eine Entfernung von drei- bis vierhundert Ellen zur See fahren…“
Und so finden wir die Lösung tatsächlich in Deutschland, denn es ist wohl so, dass, wie es die Philosophie meint, etwas erst groß oder klein wird im Vergleich.
Und das trifft ideal zu in Papenburg an der Ems, in Niedersachsen, ähnlich wie es der (eigentlich miesepetrige, weltverachtende) irische Autor Jonathan Swift (im Vorwort attestierte Herrmann Hesse ihm eine „pathologische Leidenschaft“, welche man heute indes kaum noch im Reisejournalismus findet) schon 1726 in seinem berühmten Travelbook beschrieben hat: „Die Reisen in mehrere weit entfernte Länder der Erde von Lemuel Gulliver, erst als Arzt, dann als Kapitän mehrerer Schiffe«, kürzer: „Gullivers Reisen“.
Nun also Papenburg. Ziel einer Pressereise, die sich als Begehung und Begegnung mikroskopischer und makroskopischer Highlights entpuppte. Als Liliputh und Brobdingnag am selben Ort.
Papenburg: Makroskopische Highlights
„Papenburg – das ist eine Stadt mit 18 Kilometern Länge, aber 80 Metern Breite“, erläutert Kai-Olaf Nehe, Chef der Papenburg Marketing GmbH, die seltsame, kartografisch fast leptosome Geografie der Stadt.
Klingt nicht so spröde wie die amtlich ausgewiesenen 11 836 Hektar. Stimmt aber: Die gut 36 0000 Einwohner große Stadt zieht sich wie ein Thermometer aus dem silbernen Quecksilberpropfen als Kern mit Emshafen, Markt, Kirchen und Rathaus, Bahnhof, Einkaufsstätten Hotels und Tanken hoch als ein dünner Faden aufgereihter Stadtteilchen links und rechts eines holländisch anmutenden Kanals mit hübschen weißen Holzbrücken, kaum an einer Stelle mehr als je 40 Meter breit für Häuser und deren Gärten.
Hier ist das Kleine groß. Die Blumenrabatte. Die Vorgartenkulturen. Die Brücken. Die Butzenscheibenfenster. Die Nasenschilder über den Läden. Die an den Kanalufern und im alten Hafen liegenden maritimen Oldtimer wie unter vielen die legendäre Museums-Brigg „Friederike von Papenburg“ vor dem Rathaus oder die alte Schmack „Gesine von Papenburg“ am Krankenhaus.
Kleines ganz Groß
Geschichte seit mehr als 1250 Jahren angefangen mit einer alten Taufkirche im damaligen Aschendorf. Es ging weiter, wie es so kam, und wie so oft mit Hauen und Stechen, mit dem Bau der Befestigung „Papenburg“ 1431, Anfang des 17.Jahrhunderts mit Torfabbau durch Arbeiter einer „Fehnkolonie“, wie das damals hieß unter einem Droste, wie die Herren damals hießen, mit der „Papenhuder Herrlichkeit“, wie damals viele freie Befugnisse hießen, mit wechselnden Herren und – 1803 – schon mit drei Schiffswerften.
Und dann, raus aus dem Kleinen, rein ins Riesige: DIE Werft, die Giganten-Schmiede Meyer Werft, Uterus und Geburtskanal für mit die riesigsten bis 348 Meter langen Kreuzfahrtschiffe der Welt. Aida Cruises, klaro!, Norwegian Cruise Line, Royal Carribean International, Dream Cruises…Milliardenaufträge bis (erst mal) 2023.
Und deren Auftraggeber aus aller Welt reisen an diesen kleinen, magischen Ort ohne bebaute Gigantomanie, ohne die größten Shopping Malls der Welt, ohne Casinos und Skyscrapers, Pferderennbahn oder andere exaltierte Großmanns-Verwöhnmechanismen. Sie machen der Kleinstadt ihre Aufwartung, geben ihre Milliarden eher im Stillen aus. Man könnte glauben: Diese kleine Stadt ist für sie nicht eng, nicht klein, sondern sie rückt katalytisch alles wieder ins richtige Verhältnis. Das Leben. Das Geld. Die Macht. Das für jedermann Fassbare. Das ganz einfache Glücklichsein. . Manchmal auch aus der weiten Welt aber anders: Ivan Majid ist mit 17 Jahren Papenburgs erster syrischer Feuerwehrmann.
So nahe ist das alles mitunter.
Diese internationalen Kunden: Bestellen vielleicht im Fischhaus Smutje-Papenburg am Hauptkanal links einen Matjesteller für 16.50 Euro oder beim Chinesen „Mongolia“ am Deverweg ebenfalls für ebenfalls schlappe 16 Euro „König des Meeres“, richtig!, also Garnelen, mit Pilzen, Zucchini und Broccoli. Und reisen wieder ab, bis die nächsten kommen. Eben: ein Kommen, Geben und Gehen aus aller Welt.
Da haben wir diese beiden Welten: die Miniatur einer kleinen, feinen alten Stadt wie aus der Museumsschatulle. Und die Welt der Riesen, angesichts derer man zum Gulliver mutiert. Aber alles passt. Erstaunlich, denn eigentlich hätte sich dieser Ort im Laufe der immer noch fetten Jahre dramatisch verändern, sich aufblasen müssen, können. Tat er aber nicht.
Friesen-Tee ohne Beutel
Wir sitzen unter der Holz-Deck im Bauch der alten „Frederike“. Fast beiläufig erzählt Kai-Olaf Nehe, dass gestern noch „der Meyer“ hier mit Gästen gesessen war. Einer der beiden Meyer-Werft-Geschäftsführer. Dunnerlittchen! Der Chef! Und heute wir hier.
Es wird Friesen-Tee serviert. Ohne Beutel. Dazu gibt’s Kekse und Pressematerial. Es wird über Papenburg geklönt: Meyer-Werft, Torftown, neue Pläne, Erweiterungen, das Heißluftballon-Angebot.
Oder eine rumpelnde, töffende, schnaufende, herrliche OIdie-Fahrt der ostfriesischen Oldtimerfreunde Papenburg und Umgebung e.V. als das hustende Loblied auf die Langsamkeit.
Oder eine der größten europäischen, ach, was: der Welt! Testanlagen für Autos, die 780 Hektar große ATP-Anlage etwas weiter draußen im Südosten oder das kleine, feine Freiluft-Torfmuseum der alten Fehnkolonie.
Oder Krabbenpuhlen an Bord der „Hinderk“, einem alten Krabbenkutter der Ditzumer Haven- un Kuttergemeenskupp.
Über eine riesige (sic!) Plantage für Küchenkräuter, das – mindestens galaktische – Zentrum des Kräuteranbaus, Rosmarin, Basilikum, Schnittlauch oder Petersilie, 30 Millionen der 40 Millionen Kräuter, die in Deutschland jährlich in Plastiktöpfen heranwachsen, stammen von hier. Also fast alle.
Millionen Kräuter
Und über die neue Hotellerie an der Stätte der einstigen Meyer- Werft im Stadtkern, bis diese 1975 wegzog. Auch das eine Schnurre aus Gullivers Welt: Mittlerweile – aber noch vor dem Kreuzfahrer-Boom – waren die Schiffsbauten schon so hoch geworden, dass sie kaum noch unter die alte Eisenbahnbrücke auf dem Weg zur Ems passten. Arbeitsplatz-Riese Meyer bat die Bahn, doch die Brücke vorsorglich zu erhöhen. Nix passierte. Da packte Meyer kurz entschlossen seine deutlich mehr als sieben Sachen und wuchtete die ganze Werft rüber an eine brückenfreie Stelle an der Ems außerhalb des Weichbildes der Stadt.
Fröhliche Konversion: Die historische Stelle ist nun der Platz nobler neuer Hotels wie das „Park Inn Radisson“ oder als unübersehbarer Teil der Werft-Maschinenbauhalle das „Hotel Alte Werft“ und seiner Kongressangebote mit Restaurant à la prima. Integriert: Stadthalle, Tagungsräume, Theater. Hier wird uns sogar anderentags Wolfgang Thos, Chef-Überführungskapitän der Werft, Erfahrungen und schnurrige Dönekes aus seinem Arbeitsleben vertellen. Macht er bestimmt auch nicht jeden Tag.
Und wir, wo wir schon mal bei der Welt des Großen sind, können viel erfahren (und selbst in Augenschein nehmen) über das neue Besucherzentrum mit den „Erlebniswelten“ der Werft, mit der Möglichkeit, sogar in den Werfthallen beim modularen Zusammenpuzzeln der Ozeanriesen zuzuschauen und schon mal Probeplatz zu nehmen in den aufgebauten Schau-Kabinen der verschiedenen Reedereien. Denn solche Kabinen werden später in Gänze beim Zusammenbau in die gigantische Stahlwelt im Trockendock geschoben wie mit winzigen Spielzeugmöbeln gefüllte Schubladen.
Und so erfüllt sich auch hier das Märchen-Geheimnis dieser kleinen Welt von Papenburg, dass sie das Kleine im Großen birgt und zugleich das Große im Kleinen geborgen ist. Gulliver an der Ems.
Liebe Kollegen, leider konnte ich als damals frisch gebackener Vater nicht mit Euch mitkommen. Dafür wurde ich im Nachhinein sehr freundlich von Papenburg Marketing und der Meyer Werft empfangen: https://fernwehblog.net/aidanova-meyer-werft-papenburg/ – ein unvergesslich tolles Erlebnis für mich als Kreuzfahrtblogger!