Die Musikkultur auf den Kapverden ist bunt und vielfältig – aber sie lebt von der Erfahrung der Unterdrückung und ist den Frauen der Insel Sao Vicente zu verdanken.
von Elena Witzeck
Am frühen Abend ist das Licht auf den Straßen Mindelos golden. Es fließt vom Hafen her zäh in die Stadt hinein, über die Betongerippe, die Fischverkäufer und Zigarettenfrauen. Dort bleibt es kleben, bis es dunkel wird. Dann ist Mindelo keine arme Industriestadt mehr weit draußen im Atlantik. Sondern ein kreolischer Palast der Auserwählten. Dann zwitschern in den Bäumen hundert Vogelstimmen, dann stimmen die Musiker ihre Cavaquinhos und in den Hinterhöfen trinken sie den ersten Grog. Dann versteht man das Pathos, wenn sie hier sagen: Die Musik ist das Blut in unseren Venen.
Claudia singt an diesem Abend. Die Bar heißt Metalo. Das Metalo ist ein schöner Ort in der Altstadt voller weißer Menschen, mit guten Cocktails und Strela Kriola, dem kapverdischen Bier. Unter Palmen und Bambusdächern sitzen hier stundenlang die gleichen Gäste und hören zu. Hierher kommen oft Leute, die sich mit Musik auskennen oder Musik vermarkten, was nicht schaden kann auf einer Insel, die so abgelegen ist wie São Vicente.
Claudia ist 26 und hat viele Stimmen. Eine raue, verruchte. Eine helle wie ein Mädchen. Eine, die zwitschert wie die Vögel und eine, die summt wie die Cavaquinhos, die kleinen Gitarren. Eine selbstbewusste. Und eine voller Sehnsucht, die Kapverdenstimme, in der die Saudade schwingt. Die Saudade kommt eigentlich aus Portugal, sie ist ein Lebensgefühl, ein bisschen selbstmitleidig, das Ausdruck in der Fadomusik findet.
Aber die Portugiesen haben die 15 Inseln vor der afrikanischen Westküste viele Jahre lang kolonisiert, und die Bewohner der Kapverden haben die Saudade musikalisch weiter entwickelt, mit den Einflüssen aus Brasilien, dem Samba und dem Bossa Nova, und aus dem europäischen Jazz, zu dem perfekten Sound für ein Gefühl. Er klingt, wie wenn man aufs Meer hinausschaut und auf jemanden wartet, oder wie wenn man sich wünscht, selbst da draußen zu sein. Oder beim Anblick des Meeres erkennt, was für ein unerheblicher kleiner Wicht man ist.
So, wie sich die Saudade damals weiterentwickelt hat und aus sich herausgewachsen ist, sei es auch jetzt mit ihrer Musik, sagen sie hier.
Wenn Claudia auftritt mit ihren schwarzen Locken und der Gitarre im Arm, kann es jedes Mal sein, dass sie jemand entdeckt. Entdeckt zu werden, ist eine gute Aussicht für einen Musiker am Ende der Welt. Einigen ist das schon passiert, zum Beispiel dem Komponisten Tibau Tavares von der Insel Maio weiter im Süden, die aussieht wie eine Ananas. Der nahm 2013 mit dem Elektroduo Pupkulies und Rebecca eine legendäre Platte auf und tourte danach durch Europa. Und natürlich Cesária Évora, aber Cesária mit ihrem Welterfolg ist außer Konkurrenz. Wenn also Claudia im Metalo auftritt, kommt manchmal eine der Kellnerinnen mit weißer Schürze auf die Bühne und singt selbst einen Song, mit Opernstimme, weil in Mindelo fast alle begabte Musiker sind, und Claudia sitzt da und spielt Gitarre und ruft mit ihrer verruchten Stimme ihren Namen.
Mitte des 19. Jahrhunderts war Mindelo, Claudias Heimat, angeblich die sündigste Stadt der Welt, wie auch immer ein Vergleich der Sündenschwere an einem derart abgelegenen Ort funktionieren soll. Hierher kommen die Leute mit Sehnsüchten nach Geld und Erfolg, Durchschnittsalter: Anfang 20. Hier gehen sie weg mit der Hoffnung auf ein neues Leben, oder sie bleiben für immer. Mindelo ist faszinierend, wie alle Orte des Transits.
Die meisten hier mögen die Hafenstadt trotzdem nicht besonders, weil das Leben schwer und gefährlich ist. Im Winter kommen die großen Kreuzschiffe, aber nur für ein paar Stunden. 30 Prozent der Wirtschaftskraft bringt der Tourismus, 30 Prozent die Entwicklungshilfe, 30 Prozent der Menschen hier sind arbeitslos. Wer keine Arbeit findet, geht lieber nach Boa Vista oder Sal, auf die tagelange Schiffsreisen entfernten Nachbarinseln, wo die Strände weit und weiß sind. São Vicente ist karg, liegt weit im Ozean, wurde im 18. Jahrhundert als letztes besiedelt, ist also nicht gerade der Star unter den Kapverdeninseln. Hier kommt man nicht zufällig vorbei. Hier kann man abstürzen, sagt Markus sogar und hebt dazu ernst die Brauen.
Markus und Claudia sind ungleiche Verbündete. Sie haben sich bei einem Treffen für Nachwuchstalente kennengelernt. In der Band ist er ihr Schlagzeuger, dann schaut er aufmerksam hinter seinen Becken hervor. Manchmal, wenn die Bühner kleiner ist, spielt er auch Cajón, die Trommelkiste.
Früher war das Cavaquinho, die kleine Gitarre mit den Stahlseiten, allein für den Rhythmus zuständig, aus praktischen Gründen, weil man es überall mitnehmen konnte und die Musik der Kapverden vom Meer her kam. Die portugiesischen Seefahrer brachten das Cavaquinho mit, die Ukulele ist sein kleiner Bruder. Heute bauen Männer wie Luis Babtista in Mindelo, natürlich in Handarbeit die Cavaquinhos. Babtista hat in Europa einen Geigenbaukurs bei Stradivarius gemacht. Sein älterer Bruder war der musikalische Direktor von Cesária Évora. Über die Babtistas und ihre in die ganze Welt verkauften Gitarren könnte man eine eigene Geschichte erzählen. Markus jedenfalls spielt Schlagzeug wie ein britischer Gentleman.
Im Bus, auf dem Weg zum nächsten Konzert, sitzt Claudia mit Jogginganzug und Kopfhörern, ganz Popstar, hinter dem Fahrer und tippt den Takt dazu aufs Fenster. Und Markus sitzt daneben und macht den Smalltalk für beide. Markus trägt Blumenhemden, er ist sehr schlank und grauhaarig und auf den ersten Blick als Gringo zu erkennen. Früher in Deutschland war er Lehrer, man merkt das noch an seiner Art zu erklären.
Vor ein paar Jahren hat er eine Musikschule aufgemacht. Und dann festgestellt, dass sich davon in Mindelo nicht leben lässt. Hat ja keiner Geld für die frühmusische Erziehung seiner Kinder. Jetzt führt er tagsüber Gäste herum und spielt abends seine Gigs. Standardgage: 30 Euro. Das ist nicht schlecht für die Kapverden. „Man muss sich ständig neu erfinden, um die Menschen hier zu unterhalten“, sagt Markus. Man kann nicht monatelang mit derselben Musik auf Tour gehen. Das sei anstrengend. Aber auch aufregend. Claudia widerspricht: Sie findet, dass es immer noch schwer ist, den Leuten Musik zu präsentieren, die nicht nach Cesária Évora klingt. Und Experimente erfordern Mut.
Die Geschichte kapverdischer Musik ist eng mit der Geschichte der kapverdischen Frauen verschlungen, besonders mit ihrer bedeutendsten, Cesária Évora, die mit sechzehn Jahren in einer Seefahrerkneipe in Mindelo sang und in den sechziger Jahren anfing, auf Kreuzfahrtschiffen aufzutreten. Die später nach Portugal und Paris ging und vor den Nachfahren der Kolonialherren sang. A Reina, die Auserwählte von der abgelegenen Insel im Atlantik.
Cesária kam aus Riberia Bote, einem Slum mitten in Mindelo. Der war sehr arm, was auf den Kapverden bedeutet, dass aufgeweichtes Maismehl die Mahlzeit des Tages ist, die nicht satt macht, und die einzige Zerstreuung ein Joint. Aber wie arm eine Gegend auch den Kapverden auch sein mag, es ist immer möglich, sich zum Musizieren zu treffen. Ins Haus von Cesárias Familie kamen bekannte Künstler, der Saxofonist und Klarinettist Luis Morais, der Gitarrist Manuel de Novas. Hier kam die Musik in ihre Venen, als sie ein Kind war.
Die jungen Kapverdianer nervt es ein bisschen, ständig nur auf Cesária Évora angesprochen zu werden. So, wie wenn man uns immer nur nach Nenas Luftballons fragt. Cesárias Morna ist für die Generation von Musikern wie Claudia zu sentimental, ihr Sound zu getragen, ihre Stimme zu gottergeben, aber natürlich ist sie trotzdem der Maßstab für alle und Claudia singt ihre großen Hits „Chora boi“ und ihr „Sangre Beirona“ mit Inbrunst.
Wenn man es ganz genau nimmt, hat die Geschichte kapverdischer Musik auch viel mit dem Kolonialismus zu tun. Im 15. Jahrhundert waren die Inseln Zentrum des internationalen Sklavenhandels. Die Schiffe kamen mit gestohlenem Silber und die Sklaven wurden verteilt, und mit dem Geld aus dem Sklavenhandel wurden zum Beispiel Gewürze in Indien gekauft. Die Bewohner der Inseln hatten etwas hellere Haut als die Sklaven, und weil die Europäer ihre Ungerechtigkeit lange erprobt hatten, mussten sie deren Arbeit machen, um auf ihren Inseln zu bleiben. Auch daher die Melancholie und die Sehnsucht nach Befreiung unter den Nachfahren.
Heute erzählen die Frauen von der Ungerechtigkeit. Davon, wie es war, schon als Kind mit neun Jahren jeden Tag schwere Säcke Sand zu tragen, weil Straßen gebaut werden mussten, so wie Jaiklin, Markus‘ Freundin. Wie es ist, als Jugendliche schwanger zu werden, weil kein Junge auf der Insel ordentlich verhüten will, und dann ein Kind nach dem anderen zu bekommen, bis man dreißig ist und sich der Mann betrunken zu Tode fährt, wie bei Jaiklin. Davon, wie es ist, wenn die Mütter einem sagen: Vertraut den Männern nie. Davon, als kleines Kind zur Musik zu kommen und alles dafür zu geben, nur um dann beim ersten Besuch in Europa in einer Musikneipe in Lissabon gefragt zu werden, ob man sich nicht lieber prostituieren will. Wie bei Claudia. Davon, wie es ist, trotzdem immer wieder neue Kraft zu sammeln. Die mühselige und gewalttätige Geschichte der Frauen steckt in der kapverdischen Musik.
Heute wohnen in Ribeira Bote, dem Viertel, aus dem Cesária Evora kam, 500 Menschen in Betonblöcken mit niedrigen Decken und einem Stahlgerippe im ersten Stock, weil ein Haus, das nicht fertig wird, auch keine Steuern kostet. An jeder zweiten Wand ein Graffito von einem der Helden des Viertels, an jeder Ecke schreiende Katzen, Frauen, die Fischen die Köpfe abschneiden, Männer, die nichts zu tun haben als Touristen den Weg zu weisen. Kinder, die wie überall auf der Welt mit dem Handy auf dem Bett abhängen. Auf dem Marktplatz, über dem Tücher wehen zum Schutz vor der Sonne, werden Plastiksachen verkauft, die aus anderen Ländern stammen.
Die Verheißung von Ribera Bote ist, es weg von hier zu schaffen. Dafür muss man entweder unfassbar gut Fußball spielen wie Rolando da Fonseca, der bei Marseille Verteidiger war, oder ein unfassbar guter Musiker werden. Manche haben es geschafft, und manche kamen ein paar Jahre später zurück, weil sie ihr Geld verspielt hatten und Ribera Bote ihre Heimat ist. Das ist im Viertel allerdings eine Schmach, weil es zeigt, dass jemand die Chancen, die ihm gegeben wurden und die andere gern gehabt hätten, leichtfertig verspielt hat.
In den letzten Jahren ist die Stimmung in Ribera Bote angespannt gewesen. Viele junge Kapverdianer haben es nach Amerika geschafft und viele wurden wieder abgeschoben. Ihre Rückkehr und ihr Frust haben Probleme ins Viertel gebracht. Jetzt gibt es ein paar Initiativen hier, die die Bewohner unterstützen. Man kann zum Beispiel eines der Wohngerippe besuchen und probieren, was hier Couscous heißt, den warmen, salzigen Maismehlkuchen. Oder man kann sich von Jungs aus dem Viertel auf dem Markt zeigen lassen, wo es die Zutaten für Cachupa gibt, das Nationalgericht der Kapverden.
Die Lebensumstände haben sich ein bisschen verbessert, sagen die Jungs, pouco a pouco. Es ist doch besser, durch sein Viertel zu führen als im Hafen zu arbeiten, sich an den Netzen und am Eis die Hände zu zerschneiden. Oder in einem dieser großen Hotels, wo sie einen schlecht behandeln.
Am Abend sitzt Claudia beim nächsten Konzert, packt ihre Stimmen aus, und Markus spielt Cajón und schaut aufmerksam zu ihr herüber. In den Pausen trinkt sie ein wenig abseits Tee, beide Hände um das Glas, konzentriert. Die Erkältung muss weg, schon wegen der Gigs, aber auch wegen ihrer nächsten Prüfungen.
Prüfungen?
Ja, sagt Claudia, ich studiere doch Jura. Aber schüttelt sie den Kopf. Die Leute hier studieren zu viel. Ein Bachelor nach dem anderen. Fünf Abschlüsse machen noch keinen Auserwählten.
Claudia klingt ein bisschen abgeklärt, als stünde sie über den Dingen. Nur wenn man sie nach früher fragt, erzählt sie von ihrem Lampenfieber, von der quälenden Sehnsucht nach der Virtuosität. Darüber, was in Portugal passiert ist, redet sie nicht, das wischt sie unwirsch mit der Hand beiseite und spricht lieber darüber, was sie mit Cesárias Erbe vorhat. Spricht von Rihanna und Michael Jackson, von ihrer Radioapp mit Musik aus aller Welt. Davon, wie die Menschen jenseits der Insel weit draußen im Atlantik von den kapverdischen Rhythmen, ihrer Flexibilität profitieren. Es klingt sehr typisch für eine junge, selbstbewusste Sängerin am Anfang einer Karriere. Nur ein bisschen ernster. Dann ist die Pause dabei und Claudia geht wieder auf die Bühne.
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