von Heidi Diehl
Für letzte Absprachen für die Jahrestagung im Oktober in Bonn, machte ich mich am frühen Morgen des 21. Augusts auf den Weg dorthin. Sicher, der schnellere Weg wäre das Flugzeug gewesen, doch aus Umweltgründen entschied ich mich für die Bahn, genauer, geldbeutelschonend (14,99 Euro zu mehr als 100 Euro bei der DB) für den Flixtrain. Zum ersten Mal. Und das wurde zu einem Abenteuer mit Unterhaltungseffekt und letztlicher Erlösung.
Berlin-Südkreuz, 8.11. Uhr: Kaum hat sich der Zug – bestehend aus uralten, ausrangierten, muffig riechenden und lange nicht mehr gereinigten Liegewagen – in Bewegung gesetzt, meldet sich der Zugbegleiter:
„Liebe Fahrgäste, leider haben wir nur drei funktionierende Toiletten. Wie lange die noch durchhalten, kann ich Ihnen nicht sagen. Benutzen Sie diese nur im dringenden Notfall. Wir haben einen Toilettenstopp in Wuppertal gegen 13.40 Uhr vorgesehen. Wenn Sie mutig sind und Ihre Blase mitspielt, können Sie uns auch gern im Bistrowagen besuchen und Getränke kaufen. Das Internet funktioniert übrigens auch nicht. Ich wünsche Ihnen eine angenehme Fahrt.“
Noch fünf Stunden bis Wuppertal. Die Wasserflasche bleibt in den Tiefen meiner Tasche versenkt, wenngleich der Körper nach einem Schluck schreit, denn eine Klimaanlage gibt es selbstverständlich nicht in dem Zug, und die Sonne knallt voll ins Abteil.
Kurz vor Wolfsburg, 9.29 Uhr, meldet sich der Zugbegleiter erneut:
„Wir halten jetzt in Wolfsburg. Alle Fahrgäste, denen es jetzt schon zu blöd ist, mit uns zu fahren, können hier aussteigen. Der Rest muss weiter durchhalten.“
Ich versuche, meine Blase ebenso zu ignorieren, wie die Trinkflasche. Aussteigen ist leider keine Option. Eine Stunde bis Wuppertal ist immerhin schon geschafft.
10.12 Uhr, kurz vor Hannover erklingt erneut die inzwischen schon vertraute Stimme:
„Wir erreichen gleich Hannover. Leider können wir dort keinen außerplanmäßigen Toilettenstopp einlegen. Für alle, die dennoch aussteigen: Seien Sie pünktlich zurück. Wir versuchen, den Bahnhof wieder pünktlich zu verlassen. Ob das klappt, liegt am Fahrdienstleiter.“
Es hat geklappt, der Zug verlässt Hannover zur vorgesehenen Zeit, die Sonne hat an Kraft zugelegt, ich versuche mich mit Lesen abzulenken. Von Dringlichkeiten abzulenken, versucht auch unser Zugbegleiter und verkündet gegen 11.05, kurz hinter Minden, gut gelaunt:
„Die defekten Toiletten erkennen Sie an den Schildern an den Türen, die ich mit viel Liebe und Mühe beschriftet habe. Im Übrigen muss ich Ihnen leider mitteilen, dass nun noch eine Toilette ihren Geist aufgegeben hat. Die drei noch funktionierenden befinden sich in den Wagen eins, zwei und drei am Schluss des Zuges. Der Schluss des Zuges sind die letzten Wagen entgegen der Fahrtrichtung.“
Aha! Lesen habe ich inzwischen aufgegeben. Zu warm, zu laut. Denn ich sitze mitten in einer Gruppe feierfreudiger junger Männer. Nach dem Motto: „Ein Bier geht immer noch rein“, blubben die Kronkorken lustig von den Flaschen. Und Wuppertal ist noch weit. Auf einmal verschwindet einer in einem Waschraum – so was gab es in Liegewagen separat -, kommt nach einer Weile mit einem sehr entspannten Gesichtsausdruck zurück und greift sich die nächste Flasche. „Na, hast du dir die Hände gewaschen?“, fragt sein Kumpel. „Klar, danach!“, grinst der ihn an. Nicht nur, weil mein Morgentee immer energischer in die Freiheit drängt, schnappe ich meine Sachen und begebe mich ein wenig näher in Richtung zum Schluss des Zuges.
11.41 Uhr sollen wir Bielefeld erreichen, wenige Minuten vorher meldet sich die bekannte Stimme aus dem Äther:
„Unser nächster Stopp ist Bielefeld. Wir verabschieden uns bei allen, die uns hier verlassen. Vielleicht bis zum Mal, dann hoffentlich wieder mit mehr Toiletten und dem gleichen Service.“
Am Service jedenfalls gibt es nichts zu meckern, sieht man mal von all dem ab, was von Anfang an nicht funktioniert oder fehlt, obwohl in der Werbung versprochen. Steckdosen in allen Abteilen zum Beispiel. Aber wir werden bestens informiert, und pünktlich, wenn nicht sogar überpünktlich, ist der Zug bislang auch. Denn alle, die in Bielefeld aussteigen wollen und gedanklich wohl schon fast die Bahnhofstoilette erreicht haben, müssen sich noch ein wenig gedulden, weil:
„Liebe Fahrgäste, wir haben mal wieder ein Problem, was aber eigentlich keins ist. Wir sind mal wieder zu früh, weswegen uns der Fahrdienstleiter in Bielefeld noch nicht brauchen kann. Genießen Sie so lange die Landschaft, bis er uns empfängt.“
In Bielefeld steigt eine Frau zu und steuert zielgerichtet eine Toilette an. Ich kläre sie über den Stand der Dinge auf. Erst lacht sie schrill auf, dann schießt ihr der Angstschweiß auf die Stirn. Noch zwei Stunden bis Wuppertal. Die noch verbliebenen stillen Örtchen sind längst auch nur noch bei akuter Blasenschwäche zu empfehlen. Sie resigniert und setzt sich still in eine Ecke. Hiobsbotschaften sind wir ja inzwischen gewohnt, und deswegen stört die nächste dann auch nicht mehr:
„Liebe Fahrgäste, die Anzeige an den Bahnhöfen, dass der Zug nur bis Wuppertal fährt, ist falsch. Und wir fahren heute auch nicht bis Köln Hauptbahnhof, wie im Fahrplan ausgewiesen, sondern nur bis Köln Messe-Deutz. Wer ohnehin dorthin wollte, hat Glück.“
Ich nicht, denn ich will nach Bonn und habe dort um 16 Uhr einen Termin. Ob und wie ich den schaffe, ist mir aber im Moment ziemlich egal. Ich will aufs Klo!
Fridolin, so viel wissen wir inzwischen von unserem Fahrdienstleiter, hat ein paar Kilometer hinter Unna eine weitere Durchsage für die Schicksalsgemeinschaft. Es ist inzwischen 12.32 Uhr, noch eine gute Stunde bis Wuppertal. Jetzt gilt es durchzuhalten:
„Ich muss schon sagen, wir alle zusammen sind bisher ein ziemlich gutes Team. Glaubt mir, wenn ich könnte, ich hätte schön längst ein paar Toiletten aus dem Hut gezaubert. In Wuppertal dürft Ihr alle kostenlos aufs Klo gehen. Bis dahin müsst Ihr durchhalten oder Euch am Zugende in die Schlange einreihen.“
13.07 Uhr, eine halbe Stunde vor Wuppertal:
„Hier meldet sich noch mal Fridolin, Ihr Zugführer. Wir nähern uns dem erlösenden Bahnhof. Dort wird Sie ein Mitarbeiter zur Toilette begleiten und auch wieder zum Zug zurück. Bis hierhin haben wir es gemeinsam geschafft, den Rest schaffen wir auch noch.“
13.20 Uhr, noch 20 Minuten bis Wuppertal. Fridolin erinnert sich offensichtlich, dass er als Zugführer auch für Umsatz zu sorgen hat:
„Da die Erlösung naht, ist jetzt beste Gelegenheit, im Bordbistro noch mal zuzuschlagen. Einen Kaffee vielleicht, kostet bei uns nur zwei Euro, den können Sie in wenigen Minuten dann ja schon wieder ablassen.“
Plötzlich steckt ein junger Mann mit einem grünen Flixtrain-T-Shirt den Kopf ins Abteil. Fridolin leibhaftig! Ich kann nicht anders, als ihm ein Kompliment machen. Dass die rund 400 Fahrgäste den Zug bislang nicht zerlegt haben, darf er sich zugute rechnen und als Bienchen ins Stammbuch schreiben. Ein Foto lehnt er zwar ab, aber ein bisschen was von sich erzählt er dann doch. Und so erfahre ich, dass er bis vor zwei Wochen noch vorn in der Lok saß, bevor er Zugbegleiter wurde. Was den Wechsel bewirkt habe, frage ich ihn. „Ganz einfach“, erklärt er. „Da hatte ich keinen, der das macht, was ich heute mache, die Leute beruhigen, wenn was schief geht. Da musste ich gleichzeitig fahren und die Leute bei Laune halten. Wissen’se, der heute da vorn in der Lok krault sich vor Freude die Nüsse.“ Sagt’s und verschwindet wieder. Vor Wuppertal will er noch mal ans Mikrofon.
13.27, noch 13 Minuten bis Wuppertal:
„Um abzuschätzen, wie viele Leute aufs Klo wollen, komme ich jetzt durch und zähle. Wir treffen uns dann vor dem Zug und gehen gemeinsam. Der Zug hält so lange, bis alle wieder an Bord sind. Von denen, die uns in Wuppertal nicht zur Toilette begleiten wollen, weil sie ihr Fahrziel erreicht haben, verabschiede ich mich schon mal ganz herzlich.“
13.40 Uhr, Wuppertal! Flankiert von mehreren Männern und Frauen in grünen Hemden eilen dutzende Menschen über den Bahnsteig, die Treppe hinunter, durch eine Unterführung, quer durch eine endlos scheinende Bahnhofshalle der Toilettenfrau entgegen, die Arme winkend vor dem stillen Örtchen steht, um auf sich aufmerksam zu machen. Neben mir jene Frau, die in Bielefeld zugestiegen war. Obwohl sie sichtlich leidet, lässt sie mir höflich den Vortritt: „Sie müssen es sich schon drei Stunden länger als ich verkneifen.“
13.55 Uhr, wieder im Zug. Noch einmal meldet sich Fridolin. Jetzt, auch er spürbar erleichtert, lässt er alle Vornehmheit fallen und verkündet:
„Wir haben unsere Pinkelpause beendet. Sollte jemand seinen Nachbarn vermissen, melden Sie sich bitte umgehend beim Zugpersonal.“
Eine gute halbe Stunde später erreichen wir überpünktlich Köln Messe-Deutz. Ich bekomme gleich einen Anschlusszug und bin eine halbe Stunde später in Bonn. Zurück nach Berlin fahre ich am nächsten Tag mit der Deutschen Bahn. Die Toiletten funktionieren, die Klimaanlage auch. Dennoch: Kurzweiliger war es mit Fridolin. Und natürlich erreicht der IC der Deutschen Bahn Berlin-Ostbahnhof mit Verspätung. Meine S-Bahn ist weg!
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