Kei Yoneda sagt, es könne gut sein, dass er sich gleich übergeben müsse. Er tigert vor dem Getränkeautomaten auf und ab, nippt an seiner Wasserflasche, versucht sie abzuschütteln und runterzuschlucken, diese Angst. Gerade hat die Hausband ihre Eröffnungsnummer begonnen, und durch die Decke wummern die Bässe in den kleinen Green Room. Gleich zählt es. So lange schon träumt Kei davon, wie einst sein Idol Michael Jackson dort oben auf der Bühne zu stehen. Er, der 28-jährige Japaner, der in einer Autowerkstatt mit Reifenwechseln sein Geld verdient, will sich hier als Comedian beweisen – und trotzdem kriecht ihm jetzt das Lampenfieber eiskalt den Nacken hoch. „I am fucking nervous!“, platzt es aus ihm hinaus.
Die anderen verstecken ihre Aufregung besser. Es ist Mittwochabend, und der Green Room des Apollo Theater ist wie jede Woche zum Bersten gefüllt mit Künstlern, die auf ihren Auftritt bei der „Amateur Night“ warten. Da ist die Schlangenfrau, die sich Videos ihrer Showeinlagen auf dem Smartphone ansieht. Der Fußballakrobat, der noch einmal den Ball hoch hält. Der Breakdancer, der tiefenentspannt in einem der Sessel döst. Und vor einem der drei langen Wandspiegel steht Jamia Nicole und streicht sich dicke Schichten Makeup um die Augen. Die 27-jährige Afroamerikanerin unterrichtet Tanz, studierte selbst am renommierten Alvin Ailey American Dance Theater hier in New York, doch klar, ein bisschen nervös sei sie vor ihrem Auftritt schon, sagt sie. „Aber ich freue mich auch. Meine Familie und Freunde sitzen da oben.“
Jamia lebt in Brooklyn, Kei in Osaka. Für sie war es eine U-Bahn-Fahrt mit dem A Train bis hierher, für ihn ein gut 15-stündiger Flug über einen Ozean und einen Kontinent. Sie haben sich nie getroffen, aber Jamia wählt die gleichen Worte wie Kei, um zu erklären, warum sie heute Abend hierher gekommen ist. „Ganz ehrlich“, sagt sie, „das hier war schon immer mein Traum.“
Dabei sieht das Theater auf den ersten Blick nicht sonderlich traumhaft aus, wie eingeklemmt liegt es zwischen einem Banana Republic Factory Store auf der einen Seite und dem Beautysalon Cinderella Eyebrows auf der anderen. Aber hinter dem roten Leuchtschriftzug versteckt sich eine der berühmtesten Bühnen Amerikas. Im Januar 1934 öffnete das Apollo Theater hier in Harlem seine Türen und entwickelte sich schnell zur Bastion afroamerikanischer Kultur. Wer jemand war, kam ins Apollo. Die größten schwarzen Künstler des 20. Jahrhunderts traten in dem Theater in der 125th Street auf, Billie Holiday genauso wie Charlie Parker oder Prince, die vielen Namen mit Plaketten verewigt auf dem Bürgersteig.
Und wer jemand werden wollte, kam erst recht, denn das Aushängeschild des Apollo war von Anfang an die „Amateur Night“. Die Nacht, bei der bis heute Stars geboren werden. James Brown hat sie gewonnen, die Jackson 5 und auch eine junge Ella Fitzgerald. Der Legende nach wollte die damals erst 17-Jährige eigentlich eine Tanznummer aufführen, aber die steppenden Schwestern vor ihr waren so gut, dass sie der Mut dazu verließ. „Mach irgendwas!“, rief ihr der Stage Manager zu. Also stimmte sie eine Jazznummer an. Nach den ersten Zeilen stand jemand im Publikum auf und brüllte: „Hey, das kleine Mädchen da kann singen!“
Die „Amateur Night“ ist die Großmutter aller Castingshows. Und sie hat sich seit dem Abend, an dem Ella Fitzgerald hier ihre Bestimmung fand, kaum verändert. Okay, mittlerweile ist sie so bekannt, dass sie von Coca-Cola gesponsert wird und ihre eigene Fernsehserie namens „Showtime at the Apollo“ inspiriert hat, aber die Gesetze der Show haben sich nicht groß gewandelt. Sänger, Tänzer, Komiker, Akrobaten – alle Entertainer können sich bewerben. Rund ein Dutzend darf dann jeden Mittwoch auftreten, aber über ihren Erfolg entscheidet keine Jury, sondern allein das Publikum im Saal. Das ist ehrlich, und es ist brutal. Das Publikum des Apollo ist berüchtigt dafür, schwache Performer gnadenlos auszubuhen. Wer es in New York schafft, schafft es überall, sang Frank Sinatra. Und eine heißere Feuertaufe als das Apollo gibt es in dieser Stadt nicht. „Be good or be gone“ steht auf der Leuchttafel über dem Eingang. Sei gut oder geh nach Hause.
„Wir wollen, dass ihr großartig seid!“, ermutigt eine Koordinatorin der Show die Amateure kurz vor deren Beginn. Ansonsten kann es sein, dass die ihren Auftritt nicht einmal beenden dürfen. „Wenn ihr ein Buhen hört, macht erst mal weiter, aber wenn das Buhen lauter wird, die Sirene aufheult und ein komisch gekleideter Mann angetanzt kommt, um euch von der Bühne zu schmeißen, dann ist das ‚The Executioner‘ und ihr werdet gerade hingerichtet.“ Die Amateure lachen, alle wussten, worauf sie sich einlassen. „Wer will das Gebet sprechen?“, fragt die Koordinatorin wenig später, nachdem sie den Ablaufplan des Abends vorgelesen hat. Und alle fassen sich an den Händen, als wäre das Apollo kein Theater, sondern eine Kirche. Ein Heiligtum.
Aber kein Gebet wird helfen gegen den Henker. Zwei Stunden vor der Show sitzt „The Executioner“ bereits in seiner Garderobe. Der Albtraum der Amateure sieht noch nicht sehr bedrohlich aus, ein 56-jähriger schmaler Afroamerikaner mit einem schmalen Oberlippenbart, seine Beine auf den surrenden Kühlschrank ausgestreckt. Er heißt C.P. Lacey – „das C.P. steht für Crowd Pleaser“, sagt er – aber er ist ein Mann mit vielen Namen. Der Sänger, Tänzer und Comedian gilt als einer der besten Imitatoren der Welt. 30 Stars, darunter Michael Jackson, Sammy Davis Jr. und Snoop Dogg, kann Lacey perfekt nachahmen. Aber vor allem James Brown liegt ihm im Blut. Sieben Mal gewann er als „Godfather of Soul“ selbst die „Amateur Night“. Und als sein Vorgänger dann nach Hollywood abhaute, fragte man kurzerhand ihn, ob er nicht als Henker einspringen wolle – solange er denn auch steppen könne, um die Amateure von der Bühne zu tanzen? „Ich hatte noch nie Steppunterricht genommen, aber natürlich ist die Antwort im Showbusiness: ja!“
Das war vor 28 Jahren, und mittlerweile steppt Lacey wie ein Meister. Die New York Times schrieb über ihn, dass er mit seinen Gaben in einer anderen Ära selbst ein Star geworden wäre. „Talent ist Talent“, sagt Lacey kompromisslos. Vielleicht fällt es ihm deshalb leicht, so erbarmungslos über die Amateure zu richten. „Wenn ihre Zeit gekommen ist, dann mache ich es so elend für sie wie möglich. Aber wenn sie von der Bühne kommen, erzähle ich ihnen, dass sie immer zurückkommen können. Selbst Luther Vandross wurde hier mehrmals von der Bühne gebuht.“ Und der gewann später immerhin acht Grammys. Das Publikum im Apollo sei eben knifflig, sagt Lacey. Manchmal pfiffen sie sogar, wenn jemand Talent habe, aber zu großspurig auftrete. „Die Leute kommen genauso, um zu buhen wie um zu jubeln. Es ist eine elektrische Atmosphäre. Und eine beklemmende.“
Durch das Apollo mit seinen roten Wänden, roten Teppichen und roten Sitzen zu laufen, fühlt sich an, wie von einem großen Biest verschluckt zu werden. Der Saal ist nicht sehr tief, und die beiden Ränge türmen sich nah an der kleinen Bühne übereinander. Rund 1600 Zuschauer passen in das Theater, aber wenn die richtig Lärm machen, wirkt es, als wären zehnmal so viele Menschen hier. Der Saal füllt sich schnell, nachdem um halb sieben die Türen geöffnet werden. Schon lange kommen nicht mehr nur die schwarzen Bewohner Harlems, sondern Besucher aus aller Welt ins Apollo – aber alle sind hier, um einen legendären Abend zu haben. Um 19 Uhr fangen die ersten im Publikum an, zur Playlist des Warm-up-DJs zu tanzen. Um Viertel nach sieben sitzt keiner mehr. Und dann um halb acht ist Showtime.
„Gebt ihnen eine faire Chance!“, ruft der Comedian Capone, der durch den Abend führt, ins Publikum. Nach der Eröffnungsnummer der Hausband war zunächst die Kinderkonkurrenz an der Reihe, bei der nicht gebuht werden durfte. Jetzt stehen die erwachsenen Amateure auf dem Programm. „Behandelt sie wie Stars“, sagt Capone und fügt grinsend hinzu: „Bis sie uns zeigen, dass sie keine sind.“
Jamia ist die Erste. Gekleidet in ein weißes Gewand, betritt sie barfuß die Bühne und reibt an dem Holzstumpf, der am rechten Rand auf einem Podest steht. Der letzte Rest des Baums, der einst vor dem Lafayette Theatre wuchs – dem Vorgänger des Apollo – und bis heute ist es hier Aberglaube, dass jeder Künstler den Tree of Hope berühren muss. Dann streichelt Jamia ihrem Pianisten über die Schulter, und während der die ersten Tasten spielt und das Saxophon eine verträumte Melodie anhaucht, lässt sie ihre Arme wie Wellen durch die Luft fließen.
Man spürt, wie das Publikum auslotet, was es mit ihrer modernen Tanzeinlage anfangen soll. Applaudieren? Oder doch lieber ausbuhen? Aber man spürt auch, wie Jamias Choreografie den Saal langsam in ihren Bann zieht. Als sie nach einer halben Minute einen Ausfallschritt macht und ihren Körper wie einen Bogen spannt, bekommt sie den ersten Applaus. Der ganze Saal atmet auf. Und während Jamia immer schneller über die Bühne wirbelt, bekommt sie immer mehr, bis die Musik verstummt und sie sich lachend vor einem tosenden Apollo verbeugt.
Zurück im Green Room lacht sie noch immer, kann gar nicht aufhören. „Ich tanze immer ohne meine Brille, also kann ich nicht weit sehen. Aber ich konnte das Publikum fühlen. Und als ich meine Familie und Freunde hörte, dachte ich mir: Tanz einfach nur für sie.“ Kurz nach Jamia watschelt Kei auf die Bühne. Über seine Sneaker hat er sich die Plastikmasken zweier Pferdeköpfe gestülpt. Die eine schwarz, die andere braun. „Hey, ich bin Kei aus Japan, heute zeige ich euch ein Pferderennen!“, stellt er sich dem Publikum vor, dessen Muskeln sich spürbar zusammenziehen. „Welches wird schneller sein? Das schwarze oder das braune?“ Als Antwort kommt ein lautes „Buuuh!“ aus dem Saal. Erst eins, von hinten im Saal, dann immer mehr, von allen Seiten. Es ist grausam anzusehen. „Noch nicht! Noch nicht!“, ruft Kei, fuchtelt wild mit den Armen und macht schließlich, so wie er geplant hatte, einen Handstand und lässt die Pferde um die Wette rennen, indem er seine Füße in der Luft vor und zurück bewegt. Aber es ist zu spät. Die Sirene heult auf, und James Brown schreitet auf die Bühne.
Dann passiert etwas Eigenartiges. Statt vor dem ‚Executioner‘ zu flüchten, fängt Kei an, selber zu tanzen, tanzt einfach mitten im Scheinwerferlicht vor C.P. Lacey, der ungläubig die Hände in die Hüfte stemmt, als wolle er sagen: „Ist der Typ zu fassen?“ Erst nach einem Moment hört der Japaner auf, verbeugt sich tief vor dem Apollo und geht von der Bühne.
Von den anderen Künstlern gibt es im Green Room für diesen Mut nichts als aufmunternde Worte, aber als Kei auf dem Bildschirm an der Wand, über den ein Livestream der Bühne flimmert, zusehen muss, wie Moderator Capone sich vor Lachen krümmt, schüttelt er nur mit dem Kopf und zieht sich langsam die Pferdemasken von den Füßen. Er ist der Einzige, der an diesem Abend ausgebuht wird. Beim Finale der Show, wenn alle anderen zur Bewertung wieder auf die Bühne gehen, muss Kei allein unten im Green Room bleiben. Oben bittet Capone das Publikum derweil, noch einmal für jeden Künstler zu klatschen, um anhand der Lautstärke die Gewinner zu ermitteln.
Eine riesige Leinwand wird von der Decke gefahren. Bei Jamias Applaus klettert das darauf angezeigte Lärm-Barometer auf 81 von 100 Balken. Schon der Fußballer neben ihr bekommt ein paar Punkte mehr, aber immer noch nicht so viele wie der Sänger, der Otis Reddings „Try A Little Tenderness“ durch den Saal schmetterte. Erst bei 95 stoppt sein Barometer. Er und zwei weitere Sänger holen sich die ersten drei Plätze und haben die Chance, bei der nächsten Runde wieder anzutreten – und am Ende der 84. Spielzeit der „Amateur Night“ vielleicht 20 000 Dollar zu gewinnen.
Als dann um kurz nach 22 Uhr im Apollo die Lichter angehen, will keiner schon nach Hause. Eine Traube bildet sich vor dem Theater. Die Zuschauer tanzen auf dem Bürgersteig und machen Fotos mit den Künstlern, die aus einem Seiteneingang auf die Straße huschen. Eben waren sie noch Amateure, jetzt sind sie Stars, zumindest für eine Nacht. Auch Jamia ist umringt von Familie, Freunden und Bewunderern. Die Platzierung sei ihr vollkommen egal gewesen, sagt sie. Gewinnen ist bei der „Amateur Night“ nur Nebensache.
Die Wahrheit ist: Siegen ist im Apollo ohnehin weniger wert als scheitern. Der Applaus hier macht einen vielleicht zum Star, aber das Ausbuhen – diese ohrenbetäubende, ungezügelte, so auf der Welt einmalige Ablehnung – lässt einen auf jeden Fall herausfinden, aus was man gemacht ist.
Kei ist nach der Show als einziger Künstler nirgendwo auf dem Bürgersteig zu finden. Er ist schon vorher klammheimlich verschwunden, gleich morgen geht sein Flieger nach Osaka. Zurück zum Reifenwechseln. Aber bevor er dem Green Room den Rücken zukehrte, konnte er schon wieder lachen. „Ich will es noch einmal versuchen“, sagte er entschlossen. „Ich werde zurückkommen.“ Und wenn der Japaner wirklich Wort hält, stehen seine Chancen vielleicht gar nicht so schlecht. Sie lieben ein gutes Comeback in Amerika.
Kalle Harberg schildert seine Apollo-Begeisterung in „Harlems härteste Nacht“. Die Geschichte erschien im Oktober 2018 in Merian/New York und brachte dem Autor den Columbus- Nachwuchspreis ein.
Hinterlasse jetzt einen Kommentar