VDRJ-Ehrenpreisträger 2024: Christoph Ammann im Gespräch

Christoph Ammann in St. Gallen mit Stadtführerin Susan Widrig. Foto: Jacqueline Vinzelberg

„Schon früher fand ich es langweilig, wenn in einem Artikel kein einziger Mensch vorkommt“ 

Christoph Ammann über seine Erfahrungen als blinder Reisejournalist

Christoph Ammann, VDRJ-Ehrenpreisträger 2024, zählt zu den erfahrensten Reisejournalisten im deutschsprachigen Raum. 26 Jahre lang verantwortete er als Ressortchef bei dem Schweizer Verlag Tamedia den Reiseteil der SonntagsZeitung und zuletzt auch die Reiseseite mehrerer Tageszeitungen. Seit seiner Pensionierung Ende 2022 ist er weiterhin aktiv: Er betreut für die SonntagsZeitung fünf bis sechs Reisebeilagen pro Jahr, schreibt für eine Hotelfachzeitschrift und übernimmt Beratungsaufträge im PR-Bereich. Und all dies seit zwölf Jahren ohne sein Augenlicht. Dies würdigt die Vereinigung Deutscher Reisejournalisten mit ihrem Ehrenpreis für „hervorragende Leistungen im Tourismus“.

Im Gespräch mit Marina Noble, die für die Organisation des Ehrenpreises zuständig ist, berichtet Christoph Ammann über seine Arbeit und sein Leben. Auch bezieht er Stellung zu Entwicklungen im Reisejournalismus.

Wie hat sich der Reisejournalismus im Laufe Ihrer Karriere – immerhin 37 Jahre – verändert?

Aktuelle Entwicklungen sind die abnehmende Zahl der Reiseteile in den Zeitungen und Magazinen, die zudem immer kleiner werden, der Transfer ins Digitale und der Zwang, geklickt zu werden, neuere Formate wie Podcasts und der Umgang mit künstlicher Intelligenz. Früher hatte jedes Käseblatt seinen eigenen Reiseredakteur. Heute wird alles hundertfach über die Kopfblätter kopiert. Enorm zugenommen hat der Einfluss der Agenturen. Anfänglich gab es in der Schweiz nur eine oder zwei PR-Agenturen im Tourismus. Die Anbieter hatten ihre Öffentlichkeitsarbeit meist selbst gemacht. Heute übernehmen die Agenturen eine Vorselektion. Der Journalist hat viel weniger zu tun, da ihm alles auf dem Tablett serviert wird. Eine mitunter problematische Einladung zur Bequemlichkeit, aber auch eine gute Chance, an interessante Themen zu kommen. Ich denke, es gibt immer noch guten, qualitativ hochstehenden Reisejournalismus, wie ihn die Süddeutsche Zeitung, die FAZ oder die FAZ am Sonntag beispielsweise machen. Aber es gibt, weil die Verlage sparen, auch viel Einheitsbrei.

Hat Reisejournalismus noch eine Zukunft? Wie?

Reisejournalismus hat eine Zukunft, ist aber anders und in viel mehr Kanälen aufgestellt. Wenn ich früher zu einer Veranstaltung ging, wimmelte es von Reisejournalisten. Heute trifft man häufig Marketing-Leute, Kolleginnen oder Kollegen, die nicht mehr im Geschäft sind oder für Editorial Services arbeiten, außerdem Blogger und Influencerinnen. Die freien Reisejournalisten sagen, das Geld verdiene ich mir mit PR oder Editorial Services. Die Branche hat sich komplett gewandelt. Ich denke, man muss auch dem kritischen Reisejournalismus Sorge tragen und schauen, dass man möglichst unabhängig berichtet und sich nicht von den Anbietern alles diktieren lässt. Der Konsument ist natürlich auch mündiger geworden durch die ganze Digitalisierung. Er kann sich viel besser orientieren, er kann bewerten und kommentieren. Ich denke, man muss im Reisejournalismus einen Schritt weiter gehen. Man muss heute eine Zusatz-Information oder einen Zusatz-Lesespaß bieten.

Als Sie Ihr Augenlicht verloren – wie hat sich Ihre Arbeit verändert, z.B. die Themen-Auswahl? Beim Durchsehen Ihrer Artikel habe ich z.B. viele Bahnreisen entdeckt.

Das hat mit dem Umweltschutzgedanken und auch damit zu tun, dass ich nicht mehr so viel fliege, die Bahn hat ihr Angebot ausgebaut. Vor zwölf Jahren erblindete ich. Seither unternehme ich eher selten Fernreisen – Destinationen wie Mongolei oder Formate wie eine Safari kommen leider nicht mehr in Frage. Sie wären ein rein optischer Genuss, würden mir nichts mehr bringen. Ich schreibe jetzt sehr viel über Hotels, wo ich mich in die Ambiance einfühle und mich mit Leuten unterhalte. Ich bin eher hintergründiger geworden, vielleicht auch kritischer. Dem Genre der beschreibenden Reise-Reportage widme ich mich nicht mehr so häufig. Das hat auch mit meinem neuen Status zu tun. Ich bin ja nicht mehr angestellter Reiseredakteur, sondern arbeite auch für Fachzeitschriften. Mindestens 50 Prozent meiner Geschichten schreibe ich jetzt zur Hotellerie.

Meine Arbeit ist viel mehr personalisiert als noch vor 15 Jahren, an Personen aufgehängt. Ich fand es schon früher langweilig und habe mich bei Texten von Freien darüber aufgeregt, wenn in einem Artikel kein einziger Mensch vorkam. Dabei muss man aufpassen, dass man nicht in die Falle tappt und sich mit der Marketing-Leiterin oder dem Kommunikations-Verantwortlichen als Gesprächspartner zufriedengibt. Es wird erst interessant, wenn Sie in die Tiefe gehen und jemanden finden, der etwas an der Basis macht. Was soll die Frau schon sagen, die im Hotel im Marketing-Büro sitzt? Sie kommuniziert ihre Werbe-Botschaft. Es ist viel spannender, wenn Sie mit dem Gärtner oder dem Fischer sprechen.

Wie sieht Ihr Alltag aus? Wie arbeiten Sie, welche Hilfsmittel haben Sie?

Mein Alltag ist sehr unspektakulär. Ich arbeite mit einem ganz normalen Computer. Nur anstatt dass ich meine Texte lese, höre ich sie. Ich mache praktisch alles über das Gehör. Ich habe ein Hilfssystem installiert, das mir alles vorliest. Alle Texte, die an eine Redaktion rausgehen, werden auch von einer externen Assistenz durchgelesen. So funktioniert das sehr gut. Von der Recherche her mache ich sehr viel per Telefon. Wenn ich unterwegs bin, schaue ich, dass ich jemanden dabeihabe, der mir auch etwas beschreibt: Ist die Hotellobby in Grün oder Blau gehalten? Ist das Feuer, das im Kamin flackert, wirklich echt? Ich bin in der Schweiz oft alleine unterwegs und so mobil, dass ich nicht total auf Hilfe angewiesen bin. Alle Gespräche nehme ich auf Band auf.

Welche anderen Sinne sind für Sie besonders wichtig – das Hören? das Riechen? das Tasten? Das Schmecken?

Sie können die Ambiance mit den anderen Sinnen einfangen, aber Sie können natürlich nicht das Sehen ersetzen. Wenn ich in einer Diskussion bin oder ein Referat halte, stellen die Leute immer die drei selben Fragen: Sind denn Ihre anderen Sinne besser geworden? Ich höre nicht besser als früher, das ist rein vom Alter her gar nicht möglich. Ich setze meine Sinne einfach anders ein und ich muss den Kopf unterwegs bei der Sache haben. Ich kann mich nicht auf meinen Sehsinn als Kontrollorgan verlassen, also müssen die anderen Sinne herhalten. Ob das Matterhorn sich vor mir auftürmt, das sehe ich natürlich nicht, das kann ich nur vermuten. Ich lass mir immer relativ genau beschreiben. Und es hilft natürlich, dass ich früher mal gesehen habe, logisch. Sie können das Sehen nicht ersetzen, ich kann ja nicht riechen, ob jemand schwarze, braune oder blonde Haare hat.  Was mir entgeht, muss ich mir beschreiben lassen. Dafür zuständig ist auch die Begleitperson an meiner Seite.

Und welche zwei anderen Fragen müssen Sie jeweils beantworten?

Weshalb ich eine Brille trage? Bringt nichts mehr, aber ich fühle mich irgendwie sicherer damit. Und ich verzichte auf einen Blindenhund – schlicht, weil mir der nichts nützen würde.

Sie sagten von sich selbst in einem Interview: „Mein Journalismus ist besser geworden“. Wie meinen Sie das? In einem anderen Interview Sie angesprochen, dass Sie ohne visuelle Wahrnehmung unvoreingenommener sind.

Ich kann mich nicht mehr auf das Sehvermögen verlassen, das einem in der Erinnerung auch mal einen Streich spielt – ergo gehe ich der Sache jetzt anders auf den Grund als früher, checke noch sorgfältiger und bin natürlich bemüht, auf keinen Fall Fehler zu machen. Sonst heisst es ja: Klar, der hat’s nicht gesehen. Ich versuche auch nicht mehr, auf möglichst vielen Hochzeiten zu tanzen, sondern konzentriere mich auf meine Kernaufgaben. Das hilft sicher. Mit jedem Tag gewinnt man selbst in fortgeschrittenem Alter an Knowhow und Erfahrung. Das ist etwas, das mir niemand nehmen kann. Umso mehr, als ich mich für sehr viel interessiere, was nicht direkt mit der Branche zu tun hat – für Politik, Fussball, klassische Musik, Geschichte.

Wie nehmen Sie mit Ihren Sinnen die Unterschiede auf der Welt wahr? Gibt es Länder, Regionen, Städte, die ganz besonders angenehm sind? Oder ganz besonders unangenehm?

Das ist eine schwierige Frage. Es gibt sehr sinnliche Städte, beispielsweise Amsterdam. Dort riechen Sie sehr viel – die fetten, holländischen Waffeln, die vielen Menschen, überall wird gekifft. Wenn ich in Amerika durch Dallas oder Cincinnati laufe, merke ich wahrscheinlich keinen Unterschied. Sinnlich sind auch mediterrane Städte, die riechen gut – oder Dörfer in den Alpen, besonders im Sommer, wenn das frische Heu eingebracht ist. Zur Schweiz: Ob ich jetzt in Zürich bin, in Winterthur oder Schaffhausen spüre ich natürlich, weil ich mich dort gut auskenne.

Sehen Sie Unterschiede auf der Welt, wie Destinationen den Nicht-Sehenden das Reisen erleichtern (oder erschweren)? Welche Positiv-, welche Negativ-Beispiele gibt es?

In den europäischen Städten gibt es für mich meistens keine Probleme. Aber ich möchte nicht als Blinder in Bangkok unterwegs sein, jeder Bürgersteig ist dort mit Straßenküchen oder Läden vollgestellt. Das ist eher schwierig. Obwohl die Menschen gerade in Thailand sehr hilfsbereit sind. Das wiederum ist angenehm. Mit Begleitung kann ich eigentlich überall hin, außer vielleicht auf eine schwierige Bergtour. Ich habe ja zwei gesunde Beine und bin fit. Ich steige jede Treppe hoch, das ist gar kein Problem. Vor einem Jahr sollte ich mit amerikanischen Hotelprofis einen Käsekeller im Berner Oberland besichtigen, in einem ehemaligen Bunker. Die Amis wollten mir den Zutritt über eine steile Leiter ausreden, aber der Chef der Käserei lotste mich in 20 Sekunden ohne Probleme nach unten. Einschränkung ist nicht gleich Einschränkung. Für Rollstuhlfahrer ist es viel schwieriger, von A nach B zu kommen, als für Blinde.

Was bedeutet der VDRJ-Ehrenpreis für Sie?

Das ist eine sehr schöne, unerwartete Anerkennung. Ich wusste gar nicht, dass mein Ruf mir auch in Deutschland vorauseilt. Das freut mich sehr. Ich habe viele Beziehungen zu Deutschland, zu Anbietern, Agenturen, Kolleginnen und Kollegen. Zudem stammt meine Frau aus Schleswig-Holstein, ich bin mehrere Wochen pro Jahr dort. Ich bin sehr gerührt und erfreut über diese Anerkennung. Ich habe in meinem Leben noch nicht so viele Preise gewonnen. Als Reisejournalist gewinnst du natürlich nie einen richtig hochkarätigen Journalistenpreis, denn Reisejournalisten rangieren im Ansehen etwas weiter unten als Journalisten aus Politik oder Wirtschaft.

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