Zwischen Tanz und Teufel
Der Nachwuchspreis geht an Theresa Breuer. Für die Zeitschrift Stern reist die junge Freiberuflerin acht Tage lang nach Bagdad. Die Stadt kennt sie: Fast zwölf Jahre lang hat die in Wiesbaden lebende Autorin Bagdad als Ort des Schreckens erlebt. Als eine Stadt, die vom Einmarsch der Amerikaner, von religiöser Gewalt und Selbstmordanschlägen zerfressen wurde. Ihre wortgewaltige Reportage aber bringt die Hoffnung zurück, zeigt Blüten der Veränderung, „stellenweise gar eine verloren geglaubte Normalität“ (Christian Leetz). Die Jury würdigt die politische Dimension dieser Reportage, „die keine gewöhnliche Reisereportage ist“ (Joachim Negwer). Es ist Theresa Breuer gelungen, eine Geschichte über Bagdad zu machen, die sich nicht um Krieg und Zerstörung dreht, „sondern um Aufbau und Zukunft“ (Andreas Steidel).
Theresa Breuers Reportage als PDF finden sie hier.
Der Gewinnerbeitrag:
Das Mädchen in der grünen Leuchtjacke und den Doc-Martens-Stiefeln geht langsam rückwärts die Treppenstufen hinauf. Es ist düster und kühl im Muntada-Theater an diesem Sonntagabend in Bagdad. Mit starrem Blick fixiert sie die Zuschauer. Sie sagt: „Ich bin mir sicher, im Jahr 2030 wird der Enkelsohn von Osama bin Laden die Talent-Show „Arab Idol“ gewinnen.“ Wenige Meter entfernt ahmt ein junger Mann die Geräusche von Waffen nach: Bazooka, AK-47, Pistole. Ein Balletttänzer mit silber gefärbten Haaren schleicht zwischen den Zuschauern hindurch. Dazu fragt ein sanft lächelnder Schauspieler: „Wenn du hättest wählen können, wärst du gerne geboren worden oder lieber nicht?“
„Aseise“ – der Titel des Stücks bedeutet so etwas Ähnliches wie „Unglück“ – ist die erste Produktion des irakischen Künstlerkollektivs „Studio Nuqta“. 2014 gründete Regisseur Bassim al-Tayyib die Gruppe mit 20 Gleichgesinnten. „Welche Probleme seht ihr im Irak?“, hatte er sie gefragt. Zu viele, hatte die Antwort gelautet. Religiöse Fanatiker. Gewalt. Lästernde Frauen. Arrangierte Ehen. All das verpackten sie in Szenen. Jetzt stehen sie jeden Abend auf der Bühne – mitten im Irak, mitten in Bagdad.
Der Name der Stadt setzt viele Bilder im Kopf frei. Saddam Hussein, der sein Volk hungern, foltern und töten ließ. Amerikanische Soldaten, die die Stadt binnen Tagen eroberten, über Jahre besetzten und ihr dann einen verheerenden Bürgerkrieg hinterließen. Die Milizen des Islamischen Staats, die in der vergangenen Woche das nur gut 100 Kilometer entfernte Ramadi erobert haben. Bagdad. Das steht für Sprengfallen, Autobomben und Selbstmordattentäter. Für Gefahr, Gewalt und Angst.
Aber experimentelles Theater?
75 Zuschauer finden in dem Saal Platz, seit Wochen ist das Stück ausverkauft. „Damit habe ich nicht gerechnet“, sagt der 38-jährige Bassem. „Ehrlich gesagt dachte ich, dass die Behörden unsere Produktion nach zwei Tagen dicht machen.“
Doch statt Drohbriefen kam nur Lob: vom Kulturministerium, der Presse und vor allem den Zuschauern. Die wirken nach der Show genauso erschöpft wie euphorisiert. Auf Facebook schreibt jemand: „Ihr habt mich zum Lachen und Weinen gebracht, und am Ende habe ich das Theater mit Hoffnung im Herzen verlassen.“
Die Szenerie rund um das Theater erinnert an Off-Bühnen in Berlin oder Brooklyn. Junge Männer und Frauen sitzen im Garten, rauchen Wasserpfeife. Viele tragen Schirmmütze und Holzfällerhemden. Die meisten der jungen Frauen sind unverschleiert, tragen enge Jeans und ausgeschnittene Blusen. Der Regisseur Bassim al-Tayyib bewegt sich durch diese Hipster-Welt, als sei sie das Selbstverständlichste auch in diesem Teil der Welt. Läuft in die Cafeteria, nimmt sich eine Falafel aus der Pfanne, geht wieder hinaus, gibt im Vorbeigehen Befehle: Das Plakat am Eingang hängt schief, die Lichtschalter müssen repariert, die Kerzen aufgestellt werden. „Und wo bleiben eigentlich die Schauspielerinnen?“
Al-Tayyib lebt seit zwei Jahren wieder in Bagdad. Wie so viele andere hatte er nach der US-Invasion 2003 das Land verlassen. In Belgien begann er eine Karriere als Schauspieler. „Dort habe ich meine Menschlichkeit wiedergefunden“, sagt er, „aber ich wollte in meinem eigenen Land etwas bewegen“.
Bagdad wirkt in diesen Frühsommertagen, als sei die Stadt aus einem jahrelangen Albtraum erwacht. Der Irak ist noch immer ein Land des Kriegs, erhebliche Teile seines Territoriums werden von den Fanatikern des Islamischen Staats beherrscht. Und doch beginnt das schöne Leben in der Hauptstadt wieder Fuß zu fassen. Auch Checkpoints wurden in den vergangenen Monaten nach und nach abgebaut. Im Februar fiel die nächtliche Ausgangssperre. Menschen, die heute an der Uferpromenade des Tigris spazieren gehen, müssen nicht mehr Scharfschützen ausweichen. Auf dem Fluss pendeln Fähren. In Restaurant-Booten dinieren Familien bei gedämpftem Licht und Wasserpfeifengeruch. Durch den alten Bücherbasar weht wieder der Duft von Orangen und Zigarren.
Generation Krieg
Und während sich in den Außenbezirken der Stadt weiter verfeindete schiitische und sunnitische Milizen gegenüberstehen, sind Bomben nicht mehr das alles bestimmende Gesprächsthema der Bewohner. Anas Murschid etwa, ein 26-jähriger Unternehmer, wünscht sich von der Politik am meisten: „Dosenpfand“ – ein Wunsch, so wunderbar abseits von Zerstörung und Angst.
Murschid sitzt mit seinem Freund und Geschäftspartner Ahmad Dschanabi im Café Ridha Alwan im wohlhabenden Viertel Karrada, Treffpunkt von Intellektuellen und Unternehmern. Kellner servieren Kaffee in allen erdenklichen Variationen, das männliche Publikum raucht Kette. Murschids Lebensthema ist: Müll. Sein Traum: eine Recyclingfirma im Irak aufzumachen. Gemeinsam mit Ahmad Dschanabi erklärt er den Menschen via Video, wie viel Müll man einsparen könnte, wenn man Dosen vor dem Wegwerfen zerdrücken würde.
Murschid und Dschanabi gehören zur Generation Krieg. Die Gefahr ist noch immer Teil ihres Alltags – aber das Leben wollen sie sich davon nicht mehr bestimmen lassen. Ihre Ideen drehen sich ums Internet, um die globalisierte Wirtschaft. Zurzeit beraten sie irakische Firmen, wie diese soziale Medien gewinnbringend nutzen können. Twitter, Youtube, Facebook, all das, mit dem auch sie aufgewachsen sind: Murschid hat Englisch gelernt, indem er sich Ted-Talks auf Youtube angesehen hat, Vorträge, bei denen junge Menschen innovative Ideen vorstellen. Dschanabi hat sich selbst zum Grafikdesigner ausgebildet.
Kennengelernt hatten sich die beiden vor zwei Jahren. Damals verbreitete Murschid Videos über Youtube, in denen er die Iraker dazu aufrief, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Dschanabi kontaktierte Murschid daraufhin über Facebook. Sie trafen sich und stellten fest, dass sie dieselben Ziele verfolgen: die engagierte Jugend fördern, nachhaltig helfen, das Leben in Bagdad verschönern.
Im September 2013 organisierten sie den ersten Flashmob. Heimlich platzierten sie Musiker in einer Shoppingmall, die nacheinander zu spielen begannen. Mit der Aktion wollten sie auf ein Waisenhaus aufmerksam machen. „Wir haben schon unsere Jugend an den Krieg verloren“, sagt Dschanabi, „wir wollen uns nicht länger paralysieren lassen.“ Niemand könne dauerhaft im Ausnahmezustand leben.
Plötzlich, mitten im Gespräch, knallt es im Café. Alle Besucher drehen sich mit einem Ruck in Richtung Geräusch. Starre Gesichter. Dann beruhigendes Gemurmel. Es war nur ein Schild, das der Wind zu Boden warf. Alles friedlich, und doch: Die Gelassenheit ist kaum mehr als eine dünne Schicht.
„Ich habe Religion gehasst“
Es gab Zeiten, und sie sind noch gar nicht lange her, da wachten die Menschen in Bagdad morgens auf und fragten sich, ob heute ihr letzter Tag sein würde. So oft landeten die Leichen von willkürlichen Exekutionen im Tigris, dass Besuchern geraten wurde, sich von der lokalen Fischspezialität Masquf fernzuhalten – man wisse schließlich, wovon sich die Tiere ernährten.
Bagdad, einst Vorbild einer säkularen Stadt im Nahen Osten, wurde im Krieg entlang konfessioneller Linien geteilt, manchmal auch: gesäubert. Viele Sunniten verließen die Stadt. Schiiten triumphierten. Heute gibt es nur noch wenige gemischte Nachbarschaften.
„Eine Zeit lang habe ich Religion gehasst“, sagt Dschanabi. Sein Vater sei Atheist, seine Mutter gläubige Muslimin, beide hätten ihn mit dem Thema in Ruhe gelassen. Nicht aber die Menschen um ihn herum. „Das hat mir fast die Zukunft ruiniert“, sagt er. Er sei 2006 auf eine renommierte, englischsprachige Schule gegangen. Doch dann verschwanden einige Lehrer, ein Freund wurde entführt und umgebracht. Eines Tages, als sein Vater ihn zur Schule fuhr, lag eine Leiche vor dem Auto.
Jahrelang konnte Dschanabi kaum das Haus verlassen. Zu gefährlich, sagten die Eltern. Freunde treffen, in einem Café sitzen, das war unmöglich. Sein Vater sei verzweifelt gewesen, er habe die Familie gedrängt, nach Syrien zu ziehen. Vergebens. „Was hätten wir da tun sollen?“, fragt Dschanabi. „Hier ist unsere Heimat.“ Weggehen sei feige. „Wir können nicht immer die Schuld bei anderen suchen, nicht nur auf Probleme reagieren. Wir müssen aktiv werden.“ Sein Freund Murschid stimmt zu: „Ich will mein Land als Geschäftsmann repräsentieren und nach vorn bringen.“
Tatsächlich hat der irakische Markt Potenzial. 6,5 Millionen Menschen leben allein in Bagdad. In den vergangenen Jahren ist eine amerikanisierte und vernetzte Mittelschicht herangewachsen. Sie geht shoppen an Orten wie der Mansour Mall, Bagdads größtem und neuestem Einkaufszentrum. Hier bummeln junge Frauen mit Lederhandtaschen am Ellbogen an Läden vorbei, in denen Designerschuhe und das neue iPhone feilgeboten werden. Vor dem 3-D-Kino im obersten Stockwerk knallen Popcornmaschinen. Im Food Court teilen sich Familien fettige Pizza.
3-D Kino und fettige Pizza
Es ist nicht leicht, die Widersprüchlichkeit des erwachenden Bagdads zu fassen, jenen Mix aus Gefahr und Genuss, aus Hass und Hedonismus. Vielleicht ist die Schönheitsklinik von Rafif al-Jasri dafür der richtige Ort. Wenn sich die 29-jährige Jasri ihrer Klinik nähert, dann wirkt sie wie ein Filmstar. Ein Bodyguard öffnet die Beifahrertür ihres SUVs, Jasri wirft kurz einen Blick nach rechts, nach links, lässt sich die Hand reichen und stöckelt mit goldener Sonnenbrille auf Zehn-Zentimeter-Absätzen in das Gebäude. Darauf prangt in neon-pinken Lettern der Name: „Barbie Clinic“. Darunter in etwas holprigem Englisch: „Looks good feel better“.
„Jede Frau will in Wirklichkeit wie Barbie sein“, sagt Rafif al-Jasri. Sie hat in Dubai Medizin studiert und sich in Italien auf Lasertherapie, Botox und Lippenkorrektur spezialisiert. Vergangenes Jahr hat sie mit ihrem Ehemann eine der ersten Schönheitskliniken in Bagdad eröffnet, im gehobenen Viertel Dschadria, dort, wo früher Saddams Minister und Söhne wohnten.
Rafif al-Jasri ähnelt selbst dem Ideal, das sie erschaffen will. Ihre Haare sind blondiert, ihre Brüste vergrößert, die Lippen aufgespritzt. Sie trägt blaue Kontaktlinsen und eine gigantische Goldkette, die den- noch viel Freiraum auf ihrem ebenfalls gigantischen Dekolleté lässt. An der Wand hängen ausschließlich Bilder ihres Antlitzes. „Viele Frauen im Irak haben Schreckliches durchgemacht“, sagt sie, „Ehemänner und Söhne verloren. Was wir hier tun, ist auch eine Form der Therapie.“ Die Entfernung der körperlichen Makel soll die Seelen heilen, zumindest ein bisschen. „Wir löschen den Krieg aus den Gesichtern und geben den Frauen ein Bewusstsein für den eigenen Körper zurück“, sagt al-Jasri. In der Klinik arbeiten deshalb auch eine Ernährungsberaterin, ein Zahnarzt und mehrere Kosmetiker.
Ihr Konzept ist erfolgreich. Die Ärztin hat inzwischen eine eigene Fernsehsendung, in der sie Frauen berät. Jeden Tag behandelt sie 70 Patientinnen in der Klinik, einziger Ruhetag: Sonntag.
Auch heute ist das Wartezimmer voll. Manche Frauen tragen Abajas, die traditionellen schwarzen Übergewänder, oder Kopftücher in Grün oder Pink. Andere tragen Jeansrock und toupierte Haare. Zwischen den Wartenden sitzt Hadil al-Maschhadani, 23 Jahre alt, Jurastudentin. Auch sie ganz im Barbie-Stil: pinkfarbenes Oberteil, schriller Schleier. Sie will sich heute die Lippen aufspritzen lassen. 200 Dollar kostet die Behandlung. „In der Klinik geht es endlich mal um mich“, sagt sie, „nicht um die Erwartungen meiner Eltern, mein Studium oder meinen zukünftigen Ehemann.“ Sie bekommt eine Betäubung, Jasri zieht ihr mit ihren rosa lackierten Fingernägeln den Schleier zurück und setzt ihr eine blaue Haube auf. Dann injiziert sie das Kollagen und verreibt es mit den Fingern. „Einen Tag lang nicht küssen“, mahnt die Ärztin am Ende.
Die Stadt ist nicht sicher
In Momenten wie diesen verblasst die Erinnerung an das Bagdad des Bürgerkriegs. Doch auch heute ist die Stadt nicht sicher. Tausende Menschen sind vor dem Islamischen Staat hierher geflohen. Ausländer können sich nicht frei bewegen. Regierungsgebäude und Hotels werden weiter von Soldaten und Betonmauern geschützt. Botschaftsmitarbeiter und Angestellte von Sicherheitsfirmen wohnen weiterhin in der „Green Zone“, die auch „Internationale Zone“ heißt – ein Hochsicherheitsbereich, zu dem keiner ohne Sondererlaubnis Zutritt hat.
Bomben, Schusswechsel, die schiitischen Milizen im Elendsviertel Sadr City – all das gibt es weiterhin. Daneben aber trainiert inzwischen eine weibliche Bodybuilder-Nationalmannschaft für die Wettbewerbe in Europa. Und an der Spitze der Stadt steht eine Frau, Bürgermeisterin Dhikra Alwasch. Sie gilt als ehrliche Pragmatikerin. Vor ein paar Wochen ließ sie in einem Park ein Blumenfestival organisieren. Bunte Blüten neben Riesenrad und künstlichem See, auf dem Liebes- paare Tretboot fahren – Idylle trotz all der Überbleibsel des Kriegs. Der allgegenwärtigen Metallscanner und Sicherheitschecks, in den Hotels, den Shoppingmalls – und auch beim Konzert des irakischen Symphonieorchesters.
Auf dem Programm stehen heute Bach, Rachmaninow, Saint-Saëns und Brahms. Die High Society tauscht Küsschen und Höflichkeiten. Auf den voll besetzten Rängen sitzen Frauen in Abendkleidern und Männer mit Fliege. In manchen Momenten erinnert der Konzertsaal in all seinem barocken Putz eher an Bayreuth als an Bagdad – bis mitten in Bachs „Toccata“ ein Handy klingelt. Dann wieder tuscheln Zuschauer, manche gehen kurz hinaus, zwischen den Reihen interviewt ein irakisches Fernsehteam eine junge Frau, und in der ersten Reihe schnarcht ein Mann.
Karim Wasfi hält nichts von diesem Chaos. „So geht Orchester nicht“, sagt er zu dem Konzert seines Kollegen, während er in den Gängen des Theaters eine Zigarre raucht. Wasfi ist auch Dirigent des Orchesters, Typ Lebemann: große Statur, Gel im Haar, Nadelstreifenanzug mit Einstecktuch. Er kommt gerade aus den USA. Dort leben seine Töchter mit ihrer Mutter. „Nach diversen Todesdrohungen wäre es zu egoistisch gewesen, sie länger bei mir zu behalten“, sagt Wasfi.
Sein Lebensweg hat ihn durch die halbe Welt geführt. Er wurde als Sohn eines Schauspielers in Ägypten geboren, lebte in diversen Ländern im Nahen Osten, in Europa und den USA. In den 80er Jahren war Wasfi der jüngste Cellist des irakischen Symphonieorchesters. 2006 übernahm er es als Dirigent.
Es war das Jahr, als der Bürgerkrieg endgültig ausbrach. Hunderttausende Menschen wurden vertrieben, weit über 1000 Menschen starben jeden Monat einen gewalttätigen Tod. Damals dirigierte Wasfi ein Konzert, Mozart, der Veranstaltungsort lag direkt neben einer Leichenhalle. Auf der anderen Seite des Tigris kämpfte die US-Armee gerade gegen sunnitische Milizen. Das halbe Orchester fehlte, weil sich viele Musiker nicht aus dem Haus trauten. Während des Konzerts drang der Geruch von Leichen in den Saal. „In dem Moment wusste ich, dass ich bleiben würde“, sagt er. „Ich wollte nicht aufgeben, ich wollte zurückschlagen.“
Während um ihn herum der Krieg tobte, versuchte er, an seiner Musikschule als Cello-Lehrer irakischen Jugendlichen klassische Musik näherzubringen. „Jeder weiß, wie er im Internet Pornos findet“, sagt Wasfi, „aber keiner kommt auf die Idee, sich auf Youtube mal die Berliner Philharmoniker anzuschauen.“
Zum Dirigieren selbst kam er kaum noch. Dann aber eroberte der Islamische Staat Stadt um Stadt im Norden des Irak, für einen kurzen Moment sah es so aus, als ob Bagdad selbst in Gefahr sei. Da stellte sich Wasfi wieder persönlich vors Orchester, „um der Barbarei entgegenzutreten“, wie er sagt. Das erste Konzert dirigierte er am 30. August des vergangenen Jahres. Es war der Tag, als die irakische Armee die Stadt Amerli von den Islamisten befreite. Wasfi spielte Strawinskys „Feuervogel“, ein Stück, das für ihn Durchhaltevermögen und Triumph symbolisiert.
Trägertop und enge Jeans
Heute, an diesem Abend Ende April, sitzt Wasfi im Garten eines Freundes, eines Bankers, der gegrilltes Huhn, Salate, Wodka und Whiskey servieren lässt. Seine Freundin, eine schlanke, blondierte Frauenärztin, sitzt in Trägertop und enger Jeans daneben. Man diskutiert über persönliche Freiheit und wie man es schafft, sein Umfeld zu verändern. „Seht mich an“, sagt die Freundin des Bankers. „Ich arbeite in einem konservativen schiitischen Viertel, aber ich ziehe mich an wie eine Frau aus dem Westen. Ich kann das, weil ich als Ärztin respektiert werde.“
„Dir ist die äußere Schönheit wichtig, mir die Schönheit des Geistes“, entgegnet Wasfi. Er nimmt einen Schluck Whiskey. Dann packt er sein Cello aus, italienisches Fabrikat, 270 Jahre alt. Es ist bereits nach Mitternacht, die Stadt ist ruhig. Im Garten plätschert ein Springbrunnen, Fackeln spenden Licht. Wasfi stimmt eine Melodie an, in Moll, düster, improvisiert. Mit geschlossenen Augen lässt er den Bogen über die Saiten fahren. Plötzlich ist Bagdad weit weg. Die Szenerie erinnert an einen Garten in Venedig. „Man wirft mir oft vor, mit meiner Musik der Realität zu entfliehen“, sagt Wasfi später, „doch das Gegenteil ist der Fall. Wir müssen dem Chaos zivilisiert begegnen.“
Wenige Tage danach explodiert im Stadtteil Mansur vor einem belebten Restaurant eine Bombe. Zehn Menschen sterben, ein Dutzend weitere werden verletzt.
Wasfi lebt nur ein paar Minuten von dem Restaurant entfernt. Als er von der Explosion hört, packt er sein Cello ein und eilt hin. Der Schriftzug des ausgebombten „Mr Potato“ ist halb verschwunden, der Rest von Ruß bedeckt. Im Hintergrund heulen Sirenen. Die Einsatzkräfte räumen Schutt und Trümmer beiseite, da nimmt Wasfi sich einen Stuhl, stellt ihn mitten in die Trümmer.
Und er beginnt zu spielen.