Columbus-Förderpreis für junge Autoren 2024: Aufsteigen, um runterzukommen

Foto: Verena Kathrein
Foto: Verena Kathrein

Jana Luck, Städterin, wollte herausfinden, was so toll ist am Wandern. Also zog sie drei Tage durch die Allgäuer Natur. Es endete mit einem Fall.

Von Jana Luck

Sieben Kilometer bevor ich es endlich geschafft hätte, höre ich ein Reißen. Es klingt, als zerfetzte jemand ein schweres Tuch in zwei Hälften. Das Reißen schießt einen dumpfen Schmerz in meinen linken Knöchel. Ich falle ins Gras. Mein Kreislauf drückt mich auf die Erde, mein 14-Kilo-Rucksack hilft ihm dabei.

Jana Luck (Foto: Marco Hohmann)

Ich umfasse meinen anschwellenden Knöchel und schaue mich um. Ein paar Meter bergab stehen Kühe auf der Wiese und kauen. Der Himmel ist weit und blau über den Allgäuer Gipfeln, die Sonne scheint. Ich bin allein, kein Mensch zu sehen. Ich versuche mir einzubilden, dass mein Knöchel sich ganz normal anfühlt. Vielleicht sind es einfach die Wanderschmerzen, die meine Füße schon seit Tagen plagen.

Wie komme ich jetzt runter vom Berg? Und wieso bin ich hier überhaupt hochgelaufen?

53 Kilometer und 56 Stunden zuvor. Es ist Mitternacht, ich kann noch höchstens sechs Stunden schlafen, drehe mich im Hotelbett hin und her und habe schlechte Laune. Es ist wie damals im Skiurlaub, wenn mein Vater am liebsten noch im Dunkeln morgens auf der Piste sein wollte und ich absolut nicht verstehen konnte, was daran Spaß machen sollte: früh aufstehen, abwechselnd frieren und schwitzen, sich in hässliche Outdoor-Kleidung zwängen, einen Berg hinauffahren, nur, um dann wieder runterzukommen. Das einzig Schöne am Skifahren war das Aufhören.

Als Kind habe ich Sport gehasst. Ich wollte auch nie gehen, nicht einmal bis zur Bushaltestelle. Mittlerweile tue ich das natürlich, manchmal jogge ich sogar. Doch legt man die Grundzüge der eigenen Kindheit jemals wirklich ab?

Ich will es herausfinden. Das ist die Idee. Morgen, also in sechs Stunden, werde ich mich auf den ersten mehrtägigen Trek meines Lebens machen. Eine Wanderung durchs Allgäu. 300 Teilnehmer, 57 Kilometer, drei Tage, zwei Nächte, viele Berge. Auf einer Route, die jeden Tag etwa 900 Höhenmeter umfasst. Der Trek ist organisiert, es gibt Wasserstellen zwischendurch, und ich bekomme morgens neues Trockenfutter für den ganzen Tag. Auf meinem Rücken trage ich alles, was ich brauche: Zelt, Schlafsack, Isomatte, so wenig Wechselkleidung wie möglich und erträglich, Zahnbürste, Sonnencreme (keine weiteren Kosmetika, Waschen werde ich mich vermutlich nicht), Erste-Hilfe-Set, Wanderstöcke, Müllsack. Weniger ist mehr, sagte man mir. Ich habe trotzdem eine Powerbank eingepackt, die ein knappes Kilogramm wiegt.

Mit 300 Teilnehmern ist Jana Luck im Allgäu unterwegs (Foto: Verena Kathrein)

Als ich den Rucksack anhebe, entfährt mir ein Stöhnen. Am Start stehen fünf Männer mit Alphörnern und spielen immer wieder die gleiche Melodie. Als ich loslaufe, applaudieren Menschen. Das ist ganz schön.

Nieselregen kriecht aus den Wolken und unter meine Kleidung, Nebel hängt an den Bergflanken. Ich ziehe meine Regenhose an und spanne den Wasserschutz über den Rucksack.

RAUF

Schon die ersten Meter geht es steil bergauf. Auf befestigtem Boden, den ich noch selbstverständlich nehme, bald aber nicht mehr. Sitzt der Rucksack richtig? Ich atme schwer. Mein Herz rast. Ich schwitze. Wir laufen aus dem Startort Immenstadt heraus. Typische Allgäuer Häuser zu den Seiten, viel Holz und viele Verzierungen, für mich als Norddeutsche ein wenig zu niedlich und zu hübsch, Märchenland-mäßig. Ein paar Kühe schauen mir träge hinterher. Vor mir das Gebirge.

Sofie Jugård, die Bergführerin ist und sich diese Art von Trek ausgedacht hat, läuft vor mir und hat viel zu gute Laune. Jugård ist eine Frau, der man das viele Draußensein ansieht. Tiefbraune Gesichtshaut mit hellen Augen und zarten Lachfalten, die in Richtung Himmel streben und die jeder Beauty-Influencerin gegen den Strich gehen würden, denn die Sonne hat sich hier tief eingegraben, und da hilft vermutlich kein noch so guter Lichtschutzfaktor mehr. Muss er aber auch nicht, finde ich. Jugård, 51, kommt aus Norwegen und trägt kein Gramm zu viel auf dem Rücken oder am Körper. Sehnig sieht sie aus, ich glaube, hier oben sagt man kernig dazu. „Heute wird ein richtig guter Wandertag“, sagt sie auf Englisch und grinst bergab, in meine Richtung.

Jugård zieht an ein paar Schlaufen und Gurten an meinem Rucksack, bis er fest sitzt und deutlich leichter zu sein scheint. Dann zeigt sie mir, wie ich Reißverschlüsse überall an meiner Kleidung öffne. Sie erklärt: Es gehe darum, die Feuchtigkeit außerhalb der Kleidung (Regen) und innerhalb der Kleidung (Schweiß) im Gleichgewicht zu halten.

Ich versuche also, die richtige Balance von Wasser außen und Wasser innen zu halten, scheitere und setze gereizt einen Fuß vor den anderen. Ich bin müde. Tropfen setzen sich auf meine Brillengläser.

Es geht steil bergauf, der Rucksack sitzt nicht richtig – anfangs gibt es viel zu meckern (Foto: Verena Kathrein) 

Weil ich es wirklich nicht verstehe und weil es gerade aufgrund meiner Kurzatmigkeit leichter ist, Fragen zu stellen, statt lange zu sprechen, will ich von den Menschen, die mich überholen, wissen, was daran für sie so toll ist – erstens, zu wandern, und zweitens, für mehrere Tage am Stück.

Die Bergführerin: Draußensein ist einfach. Leicht. It’s easy. Du kannst nichts tun. Nur laufen und quatschen und zwischendurch etwas kochen und essen. Du kannst nichts anderes erledigen. Der Alltag ist weit weg und kommt nicht zu dir durch.

Der Outdoor-Blogger: Ich fühle mich dabei frei. Erlebe Abenteuer. Komme an Stellen, an die andere Menschen nicht gelangen. Ich mag die Gespräche, die man auf dem Wanderweg führt. Man ist so kaputt, dass man oft über völlig quatschige Dinge spricht. Wie etwa drei Tage lang über die Frage, welches Lebensmittel nicht besser wird, wenn man Butter hinzufügt.

Der Tech-Guy aus Virginia: Ich merke hier draußen, ich kann mich auf mich selbst verlassen. Ich brauche nur mich. Ich trage alles auf meinem Rücken. Das fühlt sich gut an.

Eine Ehrenamtliche: Bei so einem Trek ist man in einer anderen Welt. Zurück zu Hause ist alles erst mal total merkwürdig. Ich komme mit viel mehr Ruhe zurück. Ich war komplett raus, ganz woanders.

Niemand, merke ich, spricht über das Wandern an sich. Über das Laufen, das Schritt-vor-Schritt-Setzen. Vielleicht liege ich falsch. Vielleicht muss ich gar nicht das Wandern genießen. Vielleicht liegt die Genusswahrheit irgendwo neben dem Pfad, und ich muss nur lernen, wie ich sie aufklauben kann.

Der Boden wird mit jeder Minute schlammiger und rutschiger. Unter meinem linken Zeh fühlt die Haut sich an, als würde sie eine Blase bilden. Ich verliere an Kraft und Trittfestigkeit.

Plötzlich ist der Pfad ebenerdig. Ich hatte vergessen, wie gut es sich anfühlt, einfach geradeaus zu laufen. Der Regen rauscht auf meine Kapuze und das Blätterdach, Wasser rast einen Bach neben mir hinunter. Es ist grün und nass und die Luft vollgesaugt mit Feuchtigkeit. Es ist schön. Mir geht es erstaunlich gut. Vielleicht ist mein Geist von den Qualen an meinen Füßen und Knien so ausgelastet, dass er nicht wie sonst an mir herumkrittelt.

Meine Knie glühen, meine Ballen sind gefühlt dreimal so dick wie sonst, der Zeh neben dem großen und wegen der Blase getapten Zeh stößt ständig schmerzhaft gegen den Rand des Pflasters. Meine Oberschenkelmuskeln platzen gleich. Aber ich bin ruhig. Oh, so ruhig.  Irgendwann tauchen vor mir bunte Zeltdächer auf. Das Nachtcamp.

Zelten inklusive: Ein mehrtägiger Trek erfordert auch Logistik (Foto: Verena Kathrein) 

Wer auf so einem Trek unterwegs ist, wandert nicht nur. Der logistische Aufwand ist enorm. Zelt aufbauen, Wasser holen, Essen kochen. Bis ich um kurz nach neun schlafen gehe, bin ich mit diesen Aufgaben voll ausgelastet. Ich entdecke einen Bach nahe dem Camp. Er ist eiskalt, ich steige hinein und wasche mir den Schweiß des Tages ab.

Dann liege ich im Schlafsack, höre den Bach rauschen, es wird dunkel um mich. Ich will kaum einschlafen, so schön ist es. Mein Handy meldet, ich sei heute 243 Stockwerke gestiegen. Der Routenguide sagt: „Du bist 1030 Meter bergauf und 870 Meter bergab gewandert.“ 21,1 Kilometer. Ich weiß nicht, ob ich jemals in meinem Leben so viel an einem Tag gelaufen bin.

RUNTER

Ich wache mit der Sonne auf. Gut geschlafen habe ich nicht, aber als ich mich nach draußen gähne und sehe, wie das Licht sich langsam von Zeltdach zu Zeltdach hangelt, erinnere ich mich an die gestrige Seligkeit.

Ich wische den Regen der Nacht vom Zelt, die Regenhose kann ich heute im Rucksack lassen. Ich stapfe los und merke, dass ich nicht mehr darüber nachdenke, was ich tue. Meine Füße machen einfach.

Schon auf dem ersten Kilometer spüre ich noch etwas: Mein Rucksack sitzt schief. Egal, an welchem Gurt ich ziehe. Ich bin genervt. Ich mag nicht mehr. Ich habe das Gefühl, ich atme schlechte Laune aus all meinen Poren, und mich umgibt bereits ein schwarz-grüner Dunstkreis aus Griesgram.

Gestern war mein Kopf so frei. Heute verliert er sich in wirren Schlaufen. Mein Hirn hüpft von einem zum nächsten Gedanken. Ich denke viel an Heidi. Ich denke oft an meine schmerzenden Füße. Oh, eine Kuh.

Ich warte auf das Hoch von gestern, aber es geht weiterhin steil bergab. Mit meiner Laune, meine ich. Sie ist wie die Route: rauf und runter. Was ist das Ziel? Wenn wir auf einen Gipfel zugingen, das könnte ich besser verarbeiten. Den Weg an sich zu genießen ist verdammt schwer. Wie auch sonst im Leben: Ich finde, alles geht einfacher, wenn man etwas hat, worauf man zuläuft. Nein: worauf man zulaufen will.

Der Schluss der Route führt heute durch ein Dorf. Die Menschen hier sind so sauber. Ich schätze, ich sehe recht eindrucksvoll aus mit meinen vom Schlamm verschmierten Schuhen, dem riesigen Rucksack und dem roten Kopf.  Warum bin ich nicht stolz auf mich?

Allein im Wald. Irgendwie tut das Wandern Jana Luck auch gut (Foto: Verena Kathrein) 

Wahrscheinlich, weil ich etwas erreicht habe, das ich gar nicht besonders erstrebenswert finde. Würde ich mir selbst begegnen, ich erstarrte wohl kaum in Achtung. Eher in Mitleid. Vielleicht kann man nur stolz auf sich sein, wenn man das Ziel selbst erreichen wollte.

Ich schreibe meiner Schwester und klage ihr mein Leid, vorsichtig, ich will nicht zu viel nölen, aber Hand aufs Herz: Heute war kein Brüller. Sie erzählt vom Jakobsweg, den sie vor ein paar Jahren gelaufen ist. Damals, sagt sie, habe in allen Pilgerführern gestanden: Der Weg sei eine Herausforderung, aber. Nach jedem schwierigen Punkt, sagt sie, kam immer das Aber: Aber du wirst Erkenntnisse über dich selbst finden. Aber du schläfst selig. Aber, sagt sie: Niemand hatte sie davor gewarnt, dass zwei Drittel des Weges einfach nur beschissen waren. Immer muss für uns hinter den schlechten Dingen etwas Gutes warten.

Was, wenn das einfach nicht in jeder Situation stimmt?

Dann sagt meine Schwester noch etwas Kluges. Bei Treks wie meinem gehe es um den Kontrast. Wenn es einem gut geht, dann richtig. Weil vorher so blöd war. Es ist nie die ganze Strecke toll, sondern es sind die hohen Highs. Es braucht schlechte Tage wie heute, um die guten überhaupt wahrnehmen zu können.

Nach 17,4 Kilometern erreiche ich das Nachtcamp. Wieder fließt ein kleiner Bach in der Nähe, meine eiskalte Badewanne für heute.

Abends baue ich das Zelt routiniert auf, koche Essen, filtere Wasser. Ich sehe mir Fotos an und höre Sprachnotizen, die ich aufgenommen habe, um mich besser zu erinnern. Meine Stimme liegt tiefer als sonst in meinem Hals. Ich spreche langsam und ruhig. Ich klinge, ich kann es nicht anders sagen: entspannt. Auf den Bildern strahle ich, meine Augen wirken ruhig und klar. Wie kann es sein, dass ich heute so gelitten habe, mir das Ganze aber trotzdem irgendwie gutzutun scheint?

RAUS

An Tag drei wache ich auf, öffne den Reißverschluss meines Zeltes, sitze aufrecht in meinem Daunenschlafsack und habe unglaublich gute Laune. Die Sonne bricht sich ihren Weg ins Tal. Heute ist der letzte Tag. 19,1 Kilometer liegen vor mir. Das alles hier kommt mir immer noch sehr sinnlos vor. Aber auch sehr schön.

Nach ein paar Stunden erreiche ich den höchsten Punkt des Tages und bereite Frühstück und Kaffee am Gipfelkreuz zu. Die Aussicht ist gewaltig, das Kreuz blickt mit mir auf grüne Weiden und den Großen Alpsee. Auf der anderen Seite sehe ich den Grat, über den ich am ersten Tag gewandert bin. Das Ziel ist nah. Ein Ehrgeiz packt mich, der mich selbst überrascht.

Kurzes Glück vor dem Fall (Foto: Verena Kathrein) 

Es geht steil bergauf, aber der Pfad ist freundlich. Grasbewachsen und meist wurzelfrei. Ich ziehe vorbei an Schafen und Kühen und Ziegenböcken, quetsche mich durch eine der vielen Viehbarrieren. Noch sieben Kilometer!

Und dann: das Reißen. Ich falle. Ich liege im Gras, mein Rucksack drückt mich hinunter. Mein Knöchel pocht. Schock kriecht vom Herzen hoch in den Kopf.

Zum Glück steht nur 200 Meter entfernt ein Checkpoint mit Freiwilligen, die dokumentieren, dass jeder Wanderer jeden Checkpoint durchläuft – und noch dabei ist. Ich werde in ein Zelt mit offenen Eingängen gelegt, mein Fuß auf einen Stuhl, sie breiten eine dieser goldenen Wärmedecken über mich. Kühe treten neben das Zelt und schauen neugierig hinein. Ich hoffe, dass niemand sie erschrickt und sie über mich trampeln, wenn sie weglaufen.

Mein Kreislauf drückt mich auf den Boden. Mir ist schlecht, ich kann kaum sitzen. Mein Fuß wird eingewickelt, fest, das helfe, sagt man mir, gegen die Schwellung. Eine der Freiwilligen heißt Pia Löser, sie ist 32 Jahre alt, zierlicher als ich, aber man sieht ihr an, was sie tut: Sie ist Akrobatin. Auch Chemikerin, sie scherzt, sie wolle eines Tages das Löser’sche Lösemittel erfinden.

Etwa eine gute Stunde später sagt sie: Komm, ich trag dich, das geht einfacher. Huckepack schleppt sie mich die letzten paar Hundert Meter bis ins Auto. Wir fahren in die Notaufnahme.

So komme ich also runter vom Berg.

Als ich zurück zu Hause meinen Koffer öffne, steigt mir der Geruch des Allgäus in die Nase. Ein bisschen Rauch vom Lagerfeuer hängt in meinem Fleece, die Kleidung stinkt nicht unbedingt, aber man riecht ihr an, dass sie häufiger nass wurde. Etwas süßlich, nach Nadelholz. Es passt nicht in meine Eimsbütteler Wohnung, das ist sicher.

Worin ich mir nicht sicher bin, ist, ob ich so eine Tour noch mal unternehme. Ich humpele mit meiner Schiene am Knöchel zur Waschmaschine und stopfe die Kleidung in die Trommel. Vielleicht, wenn meine Bänder wieder zusammengewachsen sind. Vielleicht.

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