„Künstliche Intelligenz kennt kein Erleben und keinen Geschmack“

Michael Müller
Michael Müller (Bild: Michael Müller Verlag)

Der Verleger Michael Müller über das Gestern, Heute und Morgen von Reiseführern

Reiseführer sind das Geschäft des Ehrenpreisträgers 2025 der Vereinigung Deutscher Reisejournalisten (VDRJ): Seit 45 Jahren leitet Michael Müller seinen gleichnamigen Verlag in Erlangen. Dessen Portfolio umfasst heute rund 250 Titel und nimmt eine führende Position bei den Individualreiseführern ein. Das Lebenswerk des Pioniers in diesem Bereich würdigt die VDRJ mit ihrem Ehrenpreis für „hervorragende Leistungen im Tourismus“. Im Gespräch mit Marina Noble, die für die Organisation der Auszeichnung zuständig ist, schaut Müller zurück und wagt einen Blick in die Zukunft.

Den VDRJ-Ehrenpreis erhalten Sie für Ihr Lebenswerk, auf das Sie stolz sein können. Denken wir an die Anfänge 1979 zurück: Wie hat die Erfolgsgeschichte begonnen?

Mein Traum war es zu reisen, ferne Länder kennenzulernen und vom Reisen zu leben. Das hatte ja schon mit meinem erlernten Beruf Automechaniker ganz gut geklappt. Ich habe auf meiner ersten längeren Station in Guayaquil in Ecuador Claas-Mähdrescher repariert. Später war ich für ein Jahr in Neuseeland und habe in Wellington Mercedes-Autos gewartet und repariert. In Quito hatte ich Martin Velbinger getroffen, der damals als Selbstverleger unterwegs war. Die ersten gemeinsamen Recherchen mit ihm gaben den Anstoß: So wollte ich es auch machen.

Wie haben sich die Leser und Leserinnen seither verändert? Und deren Interesse?

Wir, die Schreiberlinge, haben uns mit der Zeit verändert, eigentlich im Gleichschritt mit unserer Leserschaft. Wir alle sind anspruchsvoller geworden, es zählen nicht nur die nützlichen Hinweise zur netten Kneipe mit den großen Portionen oder der günstigen, aber sauberen Pension. Als Autoren haben wir uns im Laufe der Auflagen immer mehr mit unserem Zielland identifiziert, dort viel mehr hinterfragt und dazugelernt. Aus meinem Toskana-Band hätte man auch einen kleinen Kunst- oder Weinreiseführer machen können.

Ein Blick in die Zukunft: Wird es in 20 Jahren noch Reiseführer geben?

Da habe ich meine Zweifel. Die technische Entwicklung hin zum kostengünstigen Desktop-Publishing ermöglichte unsere Art des individuellen Reiseführers. Wir hatten darin Öffnungszeiten und Preise angegeben, weil wir wussten, dass es zwei Jahre später eine Neuauflage geben würde. Der nächste, eigentlich viel grundlegendere Wandel mit Internet und Apps erhöht die Anforderungen an die Aktualität, die kein gedruckter Reiseführer erfüllen kann. Eine App kann das und zudem noch in einer sehr handhabbaren Weise. Ich bringe gerne den bildhaften Vergleich: Mit einem Reiseführer brauche ich vier Hände. Zwei für den Stadtplan und zwei für das Buch. Mit der App geht das mit nur einer Hand.

Welche Kriterien gab und gibt es für die Destinations-Auswahl?

Michael Müller auf Recherchereise in den 1980er-Jahren
Michael Müller auf Recherchereise in den 1980er-Jahren (Bild: Michael Müller Verlag)

In den 80ern war unter den jüngeren Individualreisenden in Europa vor allem Griechenland angesagt, bei einer kleineren Gruppe auch Portugal. Dieses Land hatte nach der friedlichen Revolution 1973 einen unheimlichen Sympathie-Bonus, vor allem in Deutschland. Außerdem war es äußerst preiswert, dort unterwegs zu sein. Mittlerweile haben wir einige ausgewählte Übersee-Titel, sind aber in erster Linie in Europa zu Hause. Und zwar überall dort, wo sich Individualisten wohlfühlen, wo es echte Begegnungen mit den Menschen, ihrer Kultur, ihrem Essen und ihrer Geschichte gibt und wo man sich frei in der Natur bewegen kann.

Haben Sie einen persönlichen Lieblings-Reiseführer?

Aus meiner Verlagsreihe viele. Im Moment vielleicht „Ecuador“ von Volker Feser, in Erinnerung an meine Zeit dort im Land und wegen der wunderbar farbigen Schreibe des Autors.

Das Verlagsportfolio umfasst z. B. auch Wanderführer. Planen Sie weitere Spezial-Führer zum Beispiel für Familien mit Kindern?

Wir planen, verwerfen und planen in einer Tour. Bislang haben wir in Nischen viel investiert, ohne den gewünschten Erfolg zu haben. Unsere klassischen Reiseführer haben hingegen ein Luxus-Problem: Über die verschiedenen Auflagen sind sie richtig umfangreich geworden und decken alleine durch die Fülle an breitgefächerter Information viele Nischen mit ab. Wanderungen, Radtouren und Informationen für Familien oder den kleinen Geldbeutel gibt es bei uns fast immer on top, sie gehören inzwischen für uns einfach zum Standard.

Wie wichtig ist der Buchhandel – oder geht es auch bei Ihnen immer stärker über Onliner wie Amazon oder den Direktvertrieb?

Eigentlich sind unsere individuellen Reiseführer im höherpreisigen Segment ein echtes Produkt für den beratenden Buchhandel. Amazon hat es aber geschafft, bald 1/5 unserer Reiseführer zu verkaufen und ist Konkurrent Nummer eins für den stationären Handel. Der Verkauf direkt über unseren Online-Shop fällt zwar zahlenmäßig nicht so sehr ins Gewicht, ist aber ein wichtiges Instrument für die direkte Kommunikation mit unseren Leserinnen und Lesern.

Welche technischen Entwicklungen haben Ihre Reiseführer verändert?

Die technische Entwicklung seit den 80er-Jahren war eigentlich die Voraussetzung dafür, regelmäßig überarbeitete, kleinere Auflagen herauszubringen. Der damals normale Weg über Lichtsatzgeräte wäre für unsere Bücher unbezahlbar gewesen. Am Anfang stand im Verlag die Kugelkopfmaschine mit Diskettenspeicher, aber nur ein paar Jahre später gab es den PC mit Laserdrucker, das Desktop-Publishing war erfunden – und wir waren mitten dabei. Ich persönlich sehe die Zukunft ja im digitalen Reiseführer, an dem mein Verlag bereits seit 2009 arbeitet. Aber ich muss zugeben, dass wir der Zeit etwas voraus sind.

KI verändert die Welt – auch die Reise- und Verlagsbranche. Welchen Nutzen sehen Sie für einen Verlag wie Ihren? Und welche Risiken? Wird KI-Software die Reiseführer schreiben?

Das hört sich zunächst verführerisch an. Doch schon probeweise Schreibaufträge an die KI sorgten für Blabla und Langeweile. ChatGPT kennt kein Erleben, hat keine Meinung, keinen Geschmack und keine Werte. ChatGPT war nie vor Ort, hat nie mit den Einheimischen gesprochen und kann eine perfekte Pasta nicht von einer katastrophalen unterscheiden. Ich denke, dass wir als Marke Vertrauen ins Echte verbreiten. Leserinnen und Leser wissen, dass unsere Inhalte vor Ort aufwendig recherchiert wurden, sie schätzen die artikulierten Meinungen in unseren Büchern und sind bereit, für Ehrlichkeit Geld auszugeben.

Für den Verlag arbeiten rund 80 Autoren und Autorinnen? Ist es schwierig, diese zu finden? Was macht sie oder ihn richtig gut?

Er oder sie muss den Verlag finden, das war zumindest in der Vergangenheit so. Eine lockere Schreibe und die Fähigkeit, die Dinge knapp auf den Punkt zu bringen, sind natürlich fantastisch. Neugier gehört unbedingt dazu, genauso aber auch die Ausdauer, viele Wochen unterwegs zu sein. Und spätestens zu Hause braucht man viel Fleiß und Selbstdisziplin, um das Werk fertigzustellen.

Bekommen die Autoren Vorgaben beziehungsweise hat der Verlag Richtlinien zum Beispiel zu gendergerechter Sprache oder zu LGBT-Inhalten?

Unser Verlag hat eine Leitlinie, wir verstehen uns als offen und divers, Schwule und Lesben kommen in unseren Büchern schon seit den 80ern vor. Aber wir verlangen von unseren Autorinnen und Autoren da keine bestimmte Anzahl von einschlägigen Adressen. Je nach Reiseziel werden Sie mal mehr, mal weniger in den Büchern finden. Gendern ist bei uns immer wieder ein Thema, im Moment wünscht sich das unsere Leserschaft nicht. Praktisch würde uns das eine wahnsinnige Menge Arbeit und Papier kosten, die Textmenge übersteigt ja die von normalen Taschenbüchern bereits jetzt um ein Vielfaches. Aber wir bleiben dran, führen mittlerweile auch Leserbefragungen durch und gendern selbstverständlich auf den Social-Media-Kanälen.

Last but not least: Was bedeutet der VDRJ-Ehrenpreis für Sie? Der hat mich ganz besonders gefreut, weil ich schon seit Jahren mehr Verleger als reiner Reisejournalist bin und im Berufsalltag ganz andere Felder zu beackern habe. Dass ich diesen Preis erhalte, ehrt mich umso mehr und motiviert für viele weitere Reisen und Projekte.

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