Die besondere journalistische Leistung 2021: Höhlenwunder

Lascaux Einstieg in das Modell; Foto: Roberto Ceccarelli
Lascaux Einstieg in das Modell; Foto: Roberto Ceccarelli

Die Idee, dem Problem des Overtourism einen neuen Replikatourismus entgegenzustellen, klingt absurd – bis die Autorin die nachgemachten Steinzeitmalereien von Lascaux besucht.

Text: Barbara Klingbacher

Höhlenwunder

Jedes Jahr wollen eine halbe Million ­Menschen die berühmten Höhlenmalereien von Lascaux sehen. Dabei sind sie gar nicht echt. Liegt die Zukunft des Tourismus in der Kopie?

Es war mein bester Freund, der mir vor vielen Jahren das erste Mal von Lascaux erzählte. Als Kind habe er noch die echte Grotte mit den echten Höhlenmalereien gesehen, die «Sixtinische Kapelle der Steinzeit», wie sie auch genannt wird. Allerdings hätten damals bereits zwei Höhlen existiert. Die echte, Lascaux 1, die 1940 zufällig oberhalb des französischen Städtchens Montignac entdeckt und acht Jahre später für Besucher geöffnet worden war. Und Lascaux 2, eine Nachbildung, die man ein paar Hundert Meter vom Original entfernt in den Hügel gebaut hatte, weil die vielen Besucher das echte Lascaux bedrohten.

An jenem heissen Tag in den Sommerferien seien die Touristen für beide Höhlen angestanden, erinnerte sich mein Freund. Die Warteschlange für das nachgebildete Lascaux war lang, jene für das echte Lascaux endlos. Die Sonne brannte, die Eltern hatten nichts zu Trinken dabei; trotzdem reihte sich die Familie in die endlose Schlange ein. «Wenn es nicht echt ist, wäre die ganze Reise umsonst», habe der Vater gesagt. Mein Freund hat diesen Satz nie vergessen.

Als sie nach Stunden endlich in die Grotte hinabstiegen, machte er sich schmal, um die Malereien nicht zu streifen. Die Bisons, Pferde und Hirsche an den Wänden kamen ihm vor wie Schmetterlinge, die man zerstört, sobald man sie berührt. Dort unten, in der kühlen Dunkelheit von Lascaux, habe er ein tiefes Staunen darüber verspürt, wie kurz und unbedeutend sein Leben im Angesicht der Entwicklung der Menschheit doch sei: «Das war einer der eindrücklichsten Momente meiner Kindheit.»

Nur dass nichts davon stimmt. Auch wenn die Gefühle meines Freundes echt sind und wahr, seine Geschichte ist es nicht.

Ich bin nicht wegen der Höhlenmalereien nach Lascaux gereist, so grossartig sie sein mögen. Sondern wegen der Idee eines Schweizer Wirtschaftswissenschafters und wegen eines Experiments, das in der französischen Dordogne vor Jahrzehnten seinen Anfang genommen hat: die Multiplikation von Sehenswürdigkeiten.

Der Ökonom Bruno S. Frey stellt in seinem Buch «Venedig ist überall» eine radikale Vision vor, um den zerstörerischen Massentourismus zu bekämpfen, der nach der Pandemie wohl erneut einsetzen wird. Könnte man die Touristen von den allzu begehrten Reisezielen weglenken, indem man ihnen an einem anderen Ort eine Kopie davon hinstellt? Die Idee klingt so logisch wie grössenwahnsinnig: Um eine kulturelle Sehenswürdigkeit wie Venedig – aber auch Dubrovnik, Machu Picchu oder Mont-Saint-Michel – vor den Massen zu schützen, müsse man nicht den Zugang verknappen, wie immer diskutiert werde, sagt Frey. Man könne auch das Angebot steigern. Und zwar, indem man zum Beispiel ein zweites Venedig baut, mit den wichtigsten Monumenten im Massstab 1 : 1, also mit Dogenpalast, Rialtobrücke, Markuskirche, aber eben auch mit zusätzlichen Attraktionen: Hologrammen etwa, die den Alltag im 17. Jahrhundert aufleben lassen. Bei diesem «neuen Original», wie Frey es nennt, würde man auch gleich Fehler ausmerzen, die den Genuss des Originals schmälern. Das neue Venedig wäre perfekt an den öffentlichen Verkehr angebunden, ökologischer, behindertengerecht, und es gäbe überall genügend Toiletten.

Die Vervielfältigung als Zukunft des Tourismus? Die Idee klingt absurd – bis man Lascaux besucht. Dort funktioniert das Konzept der Kopie seit 1983: Jedes Jahr reisen eine halbe Million Menschen an, um Steinzeitmalereien zu besichtigen, die gar nicht alt sind.

Lascaux Vorraum; Foto: Roberto Ceccarelli
Lascaux Vorraum; Foto: Roberto Ceccarelli

Lascaux 2 ist ein Ort, der nicht verbergen kann, in den 1970ern geplant worden zu sein. Die Anlage sieht aus wie ein riesiger Robinsonspielplatz. Die Toiletten und der Souvenirladen sind in Hütten im Eichenwald untergebracht, dazu gibt es Picknicktische und Sitzgelegenheiten aus Baumstämmen, treppenförmig drapiert. Im Sommer 2021 steht hier niemand für eine Besichtigung an. Dabei sind fast alle Touren ausgebucht. Man kauft die Tickets nun vorab im Internet und wählt dabei gleich Datum und Uhrzeit aus. In der Hochsaison startet jede halbe Stunde eine Tour.

An diesem heissen Mittwoch im Juli vertreiben sich 50 Touristen die Zeit, bis ihr Besuch beginnt. Einige kauen im Schatten Baguette und Käse, andere suchen sich im Shop eine mit Höhlenmalereien verzierte Tasse aus, wieder andere lesen sich an Schautafeln in die Geschichte der Entdeckung von Lascaux ein.

Sie geht so: Im September 1940 jagt Robot, der Hund des 18jährigen Marcel Ravidat aus Montignac, einem Kaninchen nach und verschwindet in einem Erdloch. Beim Versuch, ihn herauszuziehen, fällt ein Stein ins Loch und schlägt erst viel später auf. Vier Tage später kehrt Marcel mit Freunden, Seilen und Lampen zurück. Die Jugendlichen hoffen, den unterirdischen Gang eines nahe gelegenen Schlosses entdeckt zu haben, in dem der Legende nach Schätze verborgen sind. Und tatsächlich stossen sie auf einen Schatz: Eine Grotte, deren Wände mit Hunderten Tierfiguren bemalt sind, manche über fünf Meter gross. Später wird sich zeigen, dass die vier Freunde die besterhaltenen Steinzeitmalereien Europas gefunden haben, geschaffen vor 20 000 Jahren.

Als die Grotte 1948 für Besucher öffnet, beginnt ein hektischer Höhlentourismus. Bis zu 1800 Menschen besuchen sie jeden Tag und zerstören, was sie bewundern. Allein die Feuchtigkeit in der Atemluft ist für die Malereien verheerend. Sie kondensiert an den Wänden und lässt Algen und Schimmel wachsen.

Schichtwechsel in Lascaux 2. Während sich vor dem Eingang die nächste Gruppe um den Guide scharrt, tritt die vorherige ein paar Meter unterhalb blinzelnd in die Sonne. Man hat die kopierte Höhle praktischerweise mit einem Hinterausgang ergänzt, damit sich die Touristen nicht in die Quere kommen. «Magnifique», sei es gewesen, sagt eine Frau, die ein T-Shirt mit den berühmten galoppierenden Pferden trägt, «eine richtige Zeitreise». «Absolument impressionnant», ergänzt ihr Mann. Er sei skeptisch gewesen, habe aber fast vergessen, dass er sich in einer Nachbildung befinde, schließlich würden auch Temperatur und Luftfeuchtigkeit simuliert. Ein Paar aus Paris ist ebenfalls begeistert. Einzig: Man habe etwas zu wenig Zeit, um die Malereien zu würdigen. Ein junger Mann aus dem Elsass sagt, er hätte zwar lieber das Original gesehen, «aber das ist halt leider nicht möglich».

Man kann diese kleine Stichprobe an Touristen in wissenschaftliche Kategorien einteilen. Inzwischen interessiert sich nämlich auch die Forschung für kopierte Sehenswürdigkeiten. An der UQ Business School im australischen Brisbane konzentrierten sich Forscher auf die Rezeption von Höhlenrepliken. Für ihre 2020 erschienene Studie werteten sie Kommentare auf Tripadvisor zu vier nachgebauten Grotten aus. Natürlich gehört Lascaux 2 dazu, das war die erste Höhlenreplika der Welt. Seither hat allerdings ein kleiner Nachbauboom eingesetzt. Es gibt Repliken von Altamira in Spanien und Chauvet in der Auvergne, und in Marseille wird gerade Cosquer nachgebaut, die einzige Höhle mit Felsenmalereien, die unter Wasser liegt.

Der junge Mann, der lieber das echte Lascaux gesehen hätte, ist ein sogenannter Pragmatiker. Er besucht die Replika, weil ein kopiertes Lascaux besser ist als keins. Zu den «Konvertiten» zählt der Herr, der vor dem Besuch skeptisch war. Solche Touristen zweifeln den Wert von Kopien an, werden aber eines Besseren belehrt. Alle anderen gehören zu den «Gläubigen», die auch in der Studie in der Mehrheit sind. Sie lassen sich ohne Vorbehalt auf Kopien ein. Ob eine Sehenswürdigkeit echt ist oder nicht, ist ihnen egal, solange sich ihr Erlebnis darin authentisch anfühlt.

Die Untersuchung listet noch «Bewahrer» auf, die Kopien befürworten, weil sie das Echte schützen. Und «Puristen», die Kopien ablehnen und ihre Meinung auch nicht ändern. Oft fühlen sie sich diffus betrogen und verwenden abschätzig den Begriff «Disneyland». Allerdings sind diese Unzufriedenen eine kleine Minderheit. In Lascaux 2 bewerten drei von vier Besuchern ihr Erlebnis als sehr gut oder exzellent.

Viele von ihnen erleben das Gefühl der «subjektiven Authentizität», wie das die Replika-Experten nennen. Wenn man es schaffe, den Menschen dieses Gefühl zu vermitteln, sprenge man die engen Grenzen von Echt und Falsch, schreiben die Forscher. Es stelle sich aber nur ein, wenn eine Replika alle Sinne anspreche. Für eine Höhlenkopie bedeutet das: Sie muss nicht nur perfekt aussehen, sie muss sich auch anfühlen wie eine Höhle, klingen wie eine Höhle und nach Höhle riechen. Oder zumindest so, wie sich Touristen eine Höhle vorstellen. In manchen Repliken ist es zwar kühl, aber deutlich wärmer als im Original – den Touristen zuliebe, die vergessen, eine Jacke mitzubringen.

Es gibt noch eine zweite Bedingung für den Erfolg einer kopierten Sehenswürdigkeit. Die Betreiber dürften auf keinen Fall versuchen, sie als echt zu vermarkten. Man müsse im Gegenteil bereits in der Werbung darauf hinweisen, dass es sich um eine Replika handle. Nichts verhindert ein subjektiv authentisches Erlebnis zuverlässiger als das Gefühl, gerade übers Ohr gehauen worden zu sein.

Bevor meine Tour durch Lascaux 2 startet, schaue ich bei Lascaux 1 vorbei. Der Ort, wo alles seinen Anfang nahm, liegt 200 Meter oberhalb und wird von einem hohen Zaun geschützt. Ausser mir scheint sich niemand für den Restposten des Echten zu interessieren. Durch die Äste der Eichen sieht man die Treppe, die zu einer schweren Bronzetüre führt; sie ist von Efeu überwuchert. Der einzige Mensch, der die Grotte regelmässig betreten darf, ist der Höhlenwart. Denn unten tobt ein stiller Kampf. Nach den Algen und dem weissen Schimmel, die die Malereien befallen hatten, kam in den nuller Jahren der schwarze Schimmel hinzu, eine noch grössere Bedrohung.

Seither ist jeder Besuch ein Politikum. Als der damalige Staatspräsident Nicolas Sarkozy die Grotte 2010 mit Familie, Fotografen und Kameramann besichtigte, kritisierte das die Presse scharf. Sein Nachfolger François Hollande schlug die Einladung 2016 klugerweise aus. Inzwischen habe man im Innern ein fragiles Gleichgewicht erreicht, heisst es, gebannt sei die Gefahr für das Weltkulturerbe aber nicht.

Um 14 Uhr steige ich mit meiner Gruppe in die nachgebaute Grotte hinab. Es ist ein bisschen kühl, ein bisschen dunkel, ein bisschen feucht, und natürlich sind die Malereien beeindruckend, natürlich frage ich mich, wie die Cro-Magnon-Menschen vor 20 000 Jahren Bilder schaffen konnten, bei denen sie die Struktur der Felsen als Gestaltungselement nutzten, mit Kanten als Horizont und Wölbungen, die Bäuche von Tieren vorgeben. Pablo Picasso soll bei seinem Besuch in den 1940ern ausgerufen haben: «Wir haben nichts Neues gelernt», und dem ist nichts Neues anzufügen.

Doch Lascaux 2 ist ein intellektuelles Erlebnis, keine emotionale Zeitreise. Die Malereien sind millimetergenau kopiert, aber der Boden zu flach und stolpersicher für eine Höhle. Wer die Wände berührt, bemerkt, dass die Felsen aus Beton gefertigt sind. Es mag daran liegen, dass ich nach Brüchen Ausschau halte, doch eine subjektive Authentizität stellt sich nicht ein. Bin ich eine «Puristin»? Jedenfalls ist das stärkste Gefühl, das ich aus Lascaux 2 mitnehme: Ich hätte wahnsinnig gern noch das echte Lascaux gesehen.

Immer schon sei es beim Reisen um dieses Wort «noch» gegangen, sagt Valentin Groebner, und immer nur um uns selbst. «Wir wollen eine historische Sehenswürdigkeit sehen, um uns in eine Person zu verwandeln, die das echte Alte ‹noch› gesehen hat, bevor es verschwindet.» Groebner ist Professor für Geschichte an der Universität Luzern. In seinem Buch «Retroland» wirft er grosse Fragen auf: Warum reisen wir? Wonach suchen wir an fremden Orten? Und warum ist die Vergangenheit seit je unsere Lieblingsdestination? Denn ob Venedig oder Machu Picchu, Freiheitsstatue oder Notre-Dame, Kolosseum oder Taj Mahal: fast alle Sehenswürdigkeiten sind historische Stätten.

Die Sehnsucht nach solchen Zeitreisen sei so alt wie das Reisen selbst, sagt Groebner. Die Wallfahrten hatten Reliquien zum Ziel, also wortwörtlich «Überbleibsel» aus der Vergangenheit. Und auch die Grand Tour der jungen Adligen, die ab dem 17. Jahrhundert in Mode kam, führte zu den immergleichen antiken oder mittelalterlichen Stätten. Beim Reisen herrscht seit je Wiederholungszwang. Eine Sehenswürdigkeit wird zur Sehenswürdigkeit, weil sie zuvor von vielen anderen als des Sehens würdig befunden worden ist. Ihr Besuch ist immer auch ein Statussymbol.

Aber das Ziel einer vermeintlichen Reise in die Vergangenheit sei gar nicht der Ort selbst, sagt Groebner. Sondern die Empfindung, die der Reisende dort zu verspüren hofft: eine Art gesteigertes Erleben. «Man sehnt sich nach einem Gefühl des Überwältigtwerdens, wenn man den Ort, an dem ein diffuses ‹es› stattgefunden hat, anschauen oder berühren kann.»

Nochmals gesteigert wird das Gefühl durch den Eindruck, das «echte Alte» sei akut vom Verschwinden bedroht. Gerade jetzt kann man es noch sehen, dann ist es für immer weg. «Denken Sie an Venedig. Die Geschichte vom unmittelbar bevorstehenden Untergang wird seit Jahrhunderten immer wieder neu erzählt.»

Auch wenn kaum ein Reiseprospekt ohne die Floskeln von der «Zeit, die stillgestanden ist» und dem «Eintauchen in die Vergangenheit» auskommt, machen wir uns etwas vor. Wir können die Vergangenheit nicht besichtigen, weil sie ja leider vergangen ist. Um sie in eine Sehenswürdigkeit zu verwandeln und touristisch nutzbar zu machen, muss man sie zuerst wiederherstellen und mit Erzählungen anreichern.

Deshalb war das «echte Alte» schon früher nicht immer echt alt. Repliken sind keine Erfindung unserer Zeit. Der Campanile in Venedig stürzte 1910 ein und wurde komplett neu errichtet. Der 1300 Jahre alte Ise-Schrein bei Kyoto ist aus Holz und damit äussert vergänglich. Alle 20 Jahre baut man ihn in exakt gleichen Formen nach und stellt ihn neben den vorherigen, den man dann abreisst und verbrennt. Die Tempelanlage, jährlich von sechs Millionen Menschen besucht, stammt genaugenommen aus dem Jahr 2013. Und auch Notre-Dame ist nicht so mittelalterlich, wie es scheint. Nach der Französischen Revolution war die Kathedrale grösstenteils zerstört. Erst nachdem Victor Hugos Roman «Notre-Dame de Paris» 1832 eine Begeisterung für mittelalterliche Bauwerke entfacht hatte, stellte man sie wieder her. Überhaupt, das Mittelalter mit all seinen Altstädten und Burgen und Kirchen: «Wenn etwas für uns so richtig mittelalterlich aussieht», sagt Groebner, «dann stammt es mit grosser Sicherheit aus dem 19. Jahrhundert.»

Lascaux 2 hat mich nicht zur «Konvertitin» gemacht, aber ich bekomme eine zweite Chance. In Lascaux 4, einer weiteren Nachbildung, die 2016 eröffnet worden ist. Natürlich gibt es auch Lascaux 3, eine Wanderausstellung, mit der man die Malereien in alle Welt bringt. Ausserdem existiert seit diesem Sommer eine digitale Kopie – in der Pariser «Cité de l’Architecture et du Patrimoine» krabbeln nun Besucher mit VR-Headseats durch die rein virtuelle Höhle.

Mit Lascaux 4, einem 63-Millionen-Euro-Bau, versuchte man die Fehler zu korrigieren, die bei Lascaux 2 gemacht worden waren. Die erste Kopie lag zu nahe am Original. Die Autos und Busse, mit denen jedes Jahr 250 000 Touristen anreisten, erschütterten das Gelände und gefährdeten das Original. Ausserdem hatte man versehentlich auch ein paar Probleme kopiert. Der schwarze Schimmel, der sich in der echten Höhle ausbreitete, tauchte in der Replika ebenfalls auf. Inzwischen dürfen nur noch 70 000 Besucher jährlich Lascaux 2 betreten. Wer im Internet nach Tickets sucht, wird automatisch zu Lascaux 4 gelotst.

Lascaux 4 ist für die Massen geplant, die Touren starten im Fünfminutentakt. Die Nachbildung der Höhle ist das Kernstück des Museums, vollständiger und überwältigender, wie die Werbung verspricht: «ein Abenteuer, das die Emotionen uralter Kunst mit modernster Technologie verbindet».

Der beste Botschafter für die gefühlte Authentizität war einer der Entdecker von Lascaux 1. Als letzter Überlebender durfte er Lascaux 4 noch vor der Eröffnung betreten. Er habe dabei die gleiche Euphorie verspürt wie 1940, als sie die echte Grotte erkundet hätten, sagte der alte Mann. Aber vermutlich steckte auch hinter diesem Satz das Marketing.

Mir selber entlockt auch dieses Lascaux nicht mehr als das Gefühl, ein wirklich gut gemachtes Museum gesehen zu haben. Aber auch hier bin ich nicht repräsentativ, eine «Puristin» halt. In der australischen Studie zu den Höhlenrepliken gefiel Lascaux 4 den Besuchern sogar noch besser als Lascaux 2.

Allerdings lassen die Kopien eine Frage offen: Hätten nicht all diese Leute lieber das Original gesehen? In Lascaux gibt es keine Möglichkeit, zwischen Echt und Nachgemacht zu wählen. Wie aber will man Touristen dazu bringen, eine Kopie von Venedig zu besuchen, wenn Venedig gleich daneben liegt? «Die ökonomische Antwort darauf lautet natürlich: über den Preis», sagt der Ökonom Bruno S. Frey. Aber seine Antwort lautet anders. Er will keine neue Zweiklassengesellschaft schaffen, in der nur noch reiche Touristen das Echte sehen können, während sich die anderen mit Kopien begnügen müssen.

Frey will den Touristen im «neuen Original» einen Mehrwert bieten. Modernste Technik soll die nachgebauten Monumente digital ergänzen und zusätzliche Attraktionen schaffen. In naher Zukunft werde die Technik so weit sein, glaubt Frey, dass sich die Besucher keine Apparatur mehr über den Kopf stülpen müssen, um durch virtuelle Realitäten zu spazieren.

Im neuen Venedig würden Touristen in verschiedenen Epochen durch die Stadt wandern. Oder Casanova als Hologramm begegnen. Oder ein angeregtes Gespräch mit dem digitalen Doppelgänger eines Dogen führen. «Jeder kann in genau das Venedig eintauchen, das ihn am meisten interessiert», sagt Frey. Das Erlebnis wird personalisiert und damit noch authentischer.

Ein Experiment an einem Pharaonengrab verleiht Freys Visionen Aufwind. Es zeigt, dass sich das Original nicht zwingend echter anfühlt als die Kopie. Die Copenhagen Business School untersuchte, wie authentisch Touristen das Grab von Tutanchamun empfanden. In Ägypten kann man sowohl das echte Grab als auch eine Nachbildung davon besichtigen; die beiden Stätten liegen wenige Kilometer auseinander. Die Forscher passten an beiden Orten Touristen ab, die ihren Besuch gerade beendet hatten. Sie boten ihnen an, das jeweils andere Grab zu sehen und beides zu bewerten. Das Ergebnis: Egal, welches Grab die Leute zuerst besucht hatten, die Nachbildung kam ihnen authentischer vor als das Original – unter anderem, weil sie sich darin freier bewegen konnten.

Venedig nachzubauen wäre natürlich wahnsinnig teuer. Vor allem, wenn man Wissenschafter aus Kunst, Geschichte und Technik hinzuzieht, wie es Bruno S. Frey vorschwebt. Auf keinen Fall soll es wirken wie ein Disneyland. Für die Finanzierung dränge sich eine Public-Private-Partnership auf, sagt er. Es gibt ja viel zu gewinnen. Im Kern müssten sich Restaurants, Kaffees und Läden mit lokalem Handwerk oder Kunst ansiedeln, während man die Hotels ausserhalb in einer Art Gürtel der Moderne bauen könnte.

Erweiterte Erlebnisse für Touristen, neue Verdienstmöglichkeiten für Investoren, ein besserer Schutz für das historische Venedig, mehr Platz für die Einheimischen und für jene Kulturtouristen, die trotz allem lieber das originale Venedig sehen: Das wäre doch eine echte Win-win-Situation.

Allerdings: Es gibt auch Risiken, wenn man den Strom der Touristen mit Kopien umlenkt. Das hat Arnaud Liénard erlebt. Der schmale Herr mit der hohen Stirn verkauft seit 42 Jahren Bücher mitten in Montignac. Jetzt sitzt er in der Brasserie vor einem Bier und ärgert sich. «Mit Lascaux 4 haben sie vor allem das Geld von uns weggeleitet», sagt der 65jährige. Die Eröffnung von Lascaux 2 im Sommer 1983 habe dem Städtchen und seiner «Maison de la presse» einen gewaltigen Boom beschert. Denn auf dem Hügel gab es kaum etwas zu kaufen. Keine Lebensmittel, keine Getränke, nur ein paar wenige Souvenirs. Und auch keine Tickets. Die 2000 Besucher, die täglich anreisten, mussten sich ihr Billett vorab im Office du tourisme besorgen, das gegenüber der Buchhandlung liegt. Es bildeten sich lange Warteschlangen, und während der Mann anstand, erledigte die Frau Besorgungen oder auch mal umgekehrt. Jedenfalls kauften die Touristen alles in der Stadt: Picknick, Postkarten, Reiseführer. Allein von «Connaître Lascaux» habe er jedes Jahr 2000 Exemplare abgesetzt, sagt Liénard. «Seit Lascaux 4 sind es noch 200.» Die Besucher fahren nun direkt zum riesigen Parkplatz, essen im museumseigenen Restaurant und decken sich im Shop mit Büchern, Souvenirs und lokalen Spezialitäten ein.

Liénard gefällt Lascaux 4 nicht. «Eine Theaterkulisse mit zu viel Licht und zu viel Lärm. Es hat nichts von der Atmosphäre, der Seele des Originals.» Und dann erzählt er, wie er noch das echte Lascaux gesehen habe. In den 1980er Jahren durften jeweils fünf Leute pro Tag hinuntersteigen, meist Politiker, Forscher oder Prominente. Aber auch die Einwohner von Montignac konnten sich um einen Besuch bewerben. Liénards Gesuch wurde bewilligt, er bekam einen unverschiebbaren Termin sechs Monate später zugeteilt. Mit drei australischen Diplomaten sei er dann hinabgestiegen, sagt er, «und es war phantastisch».

Erst in diesem Moment fällt mir ein, was mir mein Freund einst von Lascaux erzählte. Wie konnten seine Eltern zwischen Original und Kopie wählen? Lascaux 1 wurde doch schon 1963 für normale Besucher geschlossen, und Lascaux 2 erst zwanzig Jahre später eröffnet. «Absolut unmöglich», sagt Liénard, als ich ihm davon erzähle. Und die beiden Warteschlangen, an die sich mein Freund so bildhaft erinnerte? Vor dem Office du tourisme hätten sich jeweils zwei unterschiedlich lange Schlangen gebildet, sagt Liénard: Eine endlose für die Tickets, die am gleichen Tag gültig waren. Und eine lange für den Vorverkauf.

Als ich wieder in der Schweiz bin, rufe ich meinen Freund an. «Es tut mir leid», sage ich, «aber du kannst nicht die echte Höhle gesehen haben.» Er widerspricht, argumentiert, wägt ab, schweigt. Dann beginnt er zu lachen. Vierzig Jahre sei er stolz darauf gewesen, noch das echte Lascaux gesehen zu haben, sagt er. «Jetzt bin ich ein bisschen beschämt über mich selbst. Aber das ist egal. Denn das Staunen, das ich damals empfunden habe, war ja trotz allem echt.»

Eine Frage lässt mich nicht los. Warum haben die Eltern meines Freundes ihre Söhne damals angeschwindelt? «Du kannst es vielleicht kaum glauben», sagt der Vater, als ich ihn anrufe, «aber ich hätte bis zum heutigen Tag geschworen, wir seien in der echten Höhle gewesen.» Dann beginnt der 80jährige zu erzählen, was sie sonst noch in jenen Sommerferien in der Dordogne erlebt hatten: die Übernachtungen in den Jugendherbergen, die Gummibootfahrt auf der Vézère, bei der sie von mörderischen Libellen angegriffen worden seien, worüber einer der Söhne einen grossartigen Aufsatz geschrieben habe… «War die Reise im Rückblick umsonst, weil ihr nicht die echte Höhle gesehen habt?» frage ich. «Blödsinn», antwortet er.

Barbara Klingbacher
Barbara Klingbacher

Barbara Klingbachers Reportage erschien in NZZ-Folio im September 2021. Sie wurde mit dem Columbus Autorenpreis 2021 in Gold für seine „Besondere journalistische Leistung“ ausgezeichnet. Mehr zum diesjährigen Autorenpreis-Jahrgang und der Arbeit der Jury finden Sie hier.

Dieser und alle weiteren ausgezeichneten Beiträge der Columbus Journalistenpreise der VDRJ für das Erscheinungsjahr 2021 für Text, Radio sowie Film sind hier auf einen Blick zum Nachlesen, Reinhören und Anschauen online verfügbar.

Wir danken dem Sponsor der Columbus-Autorenpreise 2021

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