Corona und Nach-Corona, das sind jetzt die Fragen

Mehr als die Palme im Blick im Reisejournalismus Foto: Rüdiger Edelmann

Ein Kommentar des Ersten Vorsitzenden der VDRJ, Rüdiger Edelmann

Corona, die Krönung der Katastrophen. So ähnlich lässt sich die Pandemie zusammenfassen. Katastrophal für die Menschen, katastrophal für die Wirtschaft und katastrophal für Tourismus und Reiseindustrie im weitesten Sinn. Betroffen sind alle Bereiche: Pauschalreisen, individuelle Trips, Luftfahrt, Hospitality und Gastronomie. Getroffen, bis ins Mark, auch alle Mitarbeiter, Investoren, Betriebe, Veranstalter, das Marketing und natürlich auch Reisemedien und PR, also wir selbst. Sars-Cov2 rüttelt am System, das doch vermeintlich so gut funktioniert hat. Corona stellt beinahe alles in Frage und wir haben keine Antwort darauf. Ein funktionierender Impfstoff würde Vieles regeln und klären, bis dahin wird aber Zeit vergehen. Es ist Zeit, die wir nicht haben und trotzdem sind wir gezwungen sie uns zu nehmen. Ohne Wenn und ohne Aber.

Zukunft gestalten

Die Tourismusindustrie und ihre Ratgeber, wie Tourismuszukunft, fragen, welche „Zukünfte“ uns erwarten, wie unsere Destinationen mit und nach Corona aussehen, woran wir denken müssen, um die Krise zu meistern. Und ich mache mich jetzt bestimmt unbeliebt, wenn ich schreibe, dass wir die Zeit des Stillstands auch nutzen sollten, um uns darüber klar zu werden, wie eine bessere Zukunft aussehen muss, könnte und sollte.

Hatten wir nicht über ganz andere Dinge geredet und gestritten bevor das Virus über uns kam? Sollten wir nicht gerade diese Diskussion weiterführen und Ergebnisse daraus in die zu planende Zukunft einbeziehen? Sollten gesellschaftlicher Diskurs und politische Entscheidung, neben der Lösung einer bedrohlichen Krise, nicht auch die Perspektive im Auge behalten. Natürlich müssen zuerst Probleme gelöst werden. Aber wäre es nicht eine vertane Chance, wenn wir uns gerade jetzt nicht auch fragten, wie es nach dem gegenwärtigen Stillstand weitergehen soll? – Durchhalten und danach, auf gleiche Weise wie vorher durchzustarten kann nicht die Lösung sein. So, wie zum Beispiel Pharmazeuten derzeit diskutieren, künftig im Bereich der medizinischen Versorgung nicht mehr der vielgepriesenen Globalisierung allein zu vertrauen, so sollten auch wir uns fragen, wie es denn mit dem Tourismus weitergehen soll.

Der Stillstand bietet die Chance, beim Neustart Themen anzupacken und qualitativ neu und besser zu starten: Klimawandel, Overtourism, touristische Auswüchse, Geiz ist geil, Größer – Schöner – Weiter, Lenkung von Touristenströmen, Ausbeutung von Mitarbeitern, Rohstoffen und Entwicklungsländern, Hauptsache Verkauf und Umsatz, Hauptsache Rendite, Hauptsache „instagrammable“. Scheiß auf Umwelt- und Sozialverträglichkeit. Das anzupacken wäre mal wirklich etwas Neues.

Ich lege Wert darauf kein Miesepeter zu sein, dafür liebe ich das Reisen zu sehr. Ich will auch in Zukunft dem Jahresurlaub der mittelmäßig verdienenden Familie keinen Hochpreisriegel vorschieben. Was aber ist mit jährlich 10 Kurzreisen nach Malle, Sylt oder gar Dubai und New York? Wie steht es um die Notwendigkeit dutzendmal mit Ryanair für 10 Euro „Egalwohin“ zu „easyjetten“? Zweimal Mallorca und einmal „Egalwohin“ reichen vielleicht auch? Und „Egalwohin“ könnte ja auch der Thüringer Wald, Nordhessen, die Schwäbische Alb oder der Niederrhein sein; umweltfreundliche Anreise per Bahn inklusive. Wenn in die Ferne, dann einmal im Jahr und dafür etwas länger? Das Ganze nicht per Dekret geregelt, nicht über Verbote, sondern mit Marketinggeschick, Attraktions- und Genussanreiz. Vielleicht steht es dem Pauschalriesen sogar gut, wenn er nicht nur die Südseepalme und das Maledivenresort bewirbt, sondern auch die Jeep-Safari durchs Achterland von Usedom, die Genussregion Steiermark oder den Ayurvedaurlaub in Slowenien. Nicht nur – sondern auch, heißt die Devise.

Usedom - Benz im Achterland; Foto: Rüdiger Edelmann
Usedom – Benz im Achterland; Foto: Rüdiger Edelmann

Soziale Verantwortung anpacken

Ist es denn wirklich so undenkbar, Tourismusmitarbeitern nicht nur in Deutschland, sondern auch auf Mallorca, in Thailand oder Südafrika einen Lohn zu bezahlen, der ein gutes Leben ermöglicht? Wäre es wirklich so schlimm, wenn Hotelpreise in Fernzielen etwas steigen? Natürlich gilt es die finanzielle Hürde nicht so hoch zu legen, dass zwangsläufig aus jeder Fernreise ein Luxusurlaub wird. Mit Verlaub, zwischen bezahlbar und Schnäppchen gibt es doch Nuancen.

Reisen mit gutem Gewissen

Eine Wochenend-Städtereise per Bahn dauert eventuell einen Tag länger und ist damit zwangsläufig ökologischer. Natürlich setze ich voraus, dass die Bahn auch fährt und dass sie in der Lage ist, mich zum Wochenendtrip oder Urlaub nicht nur nach Hamburg, München und Berlin zu bringen, sondern, ganz banal, auch an den Bodensee, St. Peter-Ording und Rügen oder Kopenhagen, Prag und Rotterdam. Und wenn die Reise nach Wien oder Klagenfurt länger dauert, überlege ich mir eventuell, dass es eine gute Idee wäre, nicht zwei Tage, sondern eine Woche zu bleiben. Das als Anmerkung zum Thema Wertschöpfung im Tourismus und Erholungswert des Urlaubers.

Besserer Bahnsinn; Foto: Rüdiger Edelmann
Besserer Bahnsinn; Foto: Rüdiger Edelmann

Wir wissen alle, wenn die Taxifahrt zum Airport teurer ist als der Flug nach London, Barcelona und Athen, dann stimmt da was nicht. Könnte es heute eine Air Berlin noch geben, wenn der brachiale Preiskampf nicht ausgeartet wäre? Müsste der Sitzabstand in der Economy nicht mit Käfighaltung verglichen werden, sondern wäre angemessen? Gäbe es vielleicht, angesichts von Sitzabständen um die 73 Zentimetern, einige Reisethrombosen weniger und hätten die Airlines den finanziellen Spielraum um endlich im Bereich der Zapfluft tätig zu werden, Filter einzubauen, auf andere Luftsysteme zu setzen und damit fliegendes Personal und Passagieren nicht mehr regelmäßig stattfindenden Fume-Events auszusetzen? Fume-Events, die nichts Anderes sind als eine Vergiftung der Menschen an Bord. Im günstigsten Fall führen sie zu Berufskrankheiten, im ungünstigsten Fall zum Tod.

Die Luftfahrt krankt und hängt gerade am Tropf auf der wirtschaftlichen Intensivstation. Ist künftig weniger mehr?

Warten auf den nächsten Flieger? Foto: Rüdiger Edelmann
Warten auf den nächsten Flieger? Foto: Rüdiger Edelmann

PR und Marketing auf der Spur

An die unendlichen Mengen von Influencer-Marketing mussten wir uns zwangsweise gewöhnen. Wie wäre ein Neustart ohne sich in der Sonne räkelnde Bikini-Blondies und Transport von Nullinhalt? Ich meine damit nicht Blogger*innen, die sich mit journalistischer Recherche und dranhängenden Kooperationen einige Euro verdienen. Irgendwo muss das Geld ja herkommen. Also: Veranstalter und Agenturen, traut Euch mal was.

Verlegern und Medienverantwortlichen ins Gewissen

Vergesst mal wahlweise die Fixierung auf Anzeigengeschäft und Werbespots. Stellt gut arbeitenden Reisejournalisten einen Rechercheetat zur Verfügung und bezahlt sie so, dass man und frau von diesem Job leben kann. Wer unabhängig ist, wie es bei den meisten Zeitungen im Titelkopf steht, schreibt besser, freier und objektiver. Die Lust am Urlaub lässt sich trotzdem transportieren und das bringt (hallo Reiseindustrie!) auch wieder Anzeigen. Randbemerkung: Der Kulturteil stirbt ja auch nicht, weil Staats- und Stadttheater keine Anzeige schalten.

Reisejournalist*innen in den Notizblock!

Wir wurden beneidet von allen Branchenfremden, da wir doch ständig Urlaub machen. Wir alle wissen, so einfach ist das nicht. Recherche ist harte Arbeit. Aber sind wir ehrlich, recherchieren unter südlicher Sonne ist wesentlich angenehmer als im Regen von Hamburg. Seit Jahren beobachte ich, dass die Beiträge zu heimischen, naheliegenden Themen immer weniger werden. Die Columbus-Journalistenpreise der VDRJ werden, mangels Masse, überwiegend an Autoren vergeben, die der Exotik frönen. Bei den 38 Radiopreiseinreichungen des letzten Jahres gab es gerade mal 4 Einreichungen zu Inlandsreisezielen. Ich glaube, da machen nicht nur Tourismusorganisationen etwas falsch, sondern auch wir. Gerade deshalb müssen wir aufpassen, dass wir nicht den alten Verhaltensmustern anheimfallen, wenn in Sachen Reise wieder etwas geht.

Allzu lange haben wir uns gefallen lassen, bei Medienverantwortlichen als korrupter Abschaum und in der Reiseindustrie als billige Werbeträger zu gelten. Machen wir künftig etwas daraus, arbeiten wir so, wie es sich für Journalisten gehört: journalistisch! Arbeiten wir seriös, erzählen wir keine schönen Märchen, reichen wir keine Presseinfos ungeprüft in unsere Arbeit weiter. Suchen und finden wir Geschichten, die uns keiner aufdrängt. Fordern wir eine faire Entlohnung, gleich ob Gehalt oder Honorar. Wenn künftig Medienverantwortliche, Reiseindustrie, PR und Marketing mitspielen, sollte das klappen. Ja, ich weiß, wenn…

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1 Kommentar

  1. Lieber Rüdiger Edelmann, Danke für diese Worte. Sie bringen es auf den Punkt. Ich bin seit mehr als 20 Jahren als Reisejournalist und seit elf Jahren als Reiseblogger unterwegs. Dabei mache von Anfang an das, was Sie hier fordern. Geld verdienen kann man damit nur bedingt, aber das ist ja nicht nur mein Problem im Reisejournalismus. Was mir aufgefallen ist: In Reiseblogs, auf den Reiseseiten der Zeitungen und im Radio (so es dort überhaupt noch Reisegeschichten gibt) finde ich immer mehr Reisetexte aus dem Inland oder unseren Nachbarländern. Der Trend hat sich längst gedreht. Die Leute wollen gar nicht mehr so weit weg. Corona wird diese Umkehr verstärken. Zum Glück. Bei den Billigfliegern ist die Politik gefragt. Wir brauchen endlich eine Kerosinsteuer und einen spürbaren CO2-Preis. Bisher bleiben die Folgekosten der Fliegerei (und anderer Umweltbelastungen) an der Allgemeinheit hängen.

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