Besondere journalistische Leistung des Jahres 2022: Was vom Reisen übrig bleibt

„Diese Sonnenuntergänge in aller Welt kann mir niemand mehr nehmen.“ Als Frau B. eines Tages nicht mehr schreibt, endet eine langjährige Korrespondenz über das Reisen, die Sehnsucht danach und wieso es uns, selbst wenn es nicht mehr geht, bis zuletzt erfüllt.

Von Barbara Schaefer

Barbara Schaefer
Barbara Schaefer

Eine Solo-Wanderung in Norwegen, eine Frau, allein mit dem Zelt in Lappland. Vor 15 Jahren habe ich darüber geschrieben und bekam dazu einen Brief aus Köln. Die Leserin hatte sich über die Reportage gefreut, schilderte, wie sie 1978, als 48jährige, eine ähnliche Wanderung unternommen hatte. Sie schreibt: „Die Eindrücke und Erfahrungen, auch die Erfahrungen des Scheiterns, haben mein Leben nachhaltig beeinflusst. Wenn ich heute manchmal verzweifelt und wütend (und selbstmitleidig) bin, kommen oft die Gedanken an meine Wanderungen, an Norwegen, und dann denke ich: du hattest doch ein tolles Leben.“ Sie wünscht mir, dass ich ebenso zufrieden an meine Reise zurückdenken könne, „in 30 Jahren“.

Ich freue mich sehr über diesen Brief und antworte. Daraus entsteht ein jahrelanger, intensiver Austausch. Ich fahre nie nach Köln, um Frau B. zu treffen, und wir telefonieren auch nie. Wir schreiben uns oft und richtig lange Briefe. Ihre Briefe sind liebevoll gestaltet, sie bastelt Collagen, beklebt sie mit Bildern von Gemälden, Landschaften, Eisbergen. Überrascht stellen wir fest, dass wir beide an manchen Orten lange waren. Am Gardasee etwa, und mit einem Stipendium in Perugia.

Frau B. hat eine Tochter alleine groß gezogen. Sie musste viel arbeiten, gestattete sich kleine Fluchten. Nach und nach enthüllt sie mir ihr halbes Leben. Ich freue mich über ihre Briefe mit der schwungvollen, schwarzen Schrift. Immer schreibt sie übers Reisen, oft über Musik, über Bücher, und viel über ihre Familie. Reisen kann sie nicht mehr. Einmal schreibt sie: „Wie geht es Ihnen? Wo treiben Sie sich rum? Ich denke oft an Sie, wenn mich das Fernweh packt und fast zerreißt.“

Als es mir selbst schlecht geht, in einer Trauerphase, schreibt sie noch mehr Briefe, erzählt, schickt Bücher, Zeitungsausschnitte. Dann entschuldigt sie sich, befürchtet, sich eingemischt zu haben. Dabei bin ich ihr dankbar. Sie unterstützt mich im Vorhaben, nach China zu fahren, schickt mir Adressen von Bekannten dort, schreibt, sie komme sich vor wie eine Eislaufmutter, die für ihre Tochter das erreichen will, was ihr selbst versagt blieb. Ich lache oft beim Lesen, ihr geht es wohl auch so. Sie erzählt mir von der großen Liebe ihres Lebens. Und von Abschieden. „Das ist eine der Gemeinheiten des Alters. Es werden immer weniger um mich herum.“ Sie liebte es, alleine zu reisen. „Man erlebt viel mehr“ Aber sie sei sich unsicher, ob sie „so manche Tour heute noch wagen würde. Ob das das Alter ist, oder ob die Welt unsicherer geworden ist, ich weiß es nicht“.

Ihre Schrift wird zittrig. Und doch, immer wieder: „Ich habe so viele schöne Reisen gemacht, ich will nicht undankbar sein.“ Und jeder einzelne Brief endet mit guten Wünschen an mich. Sie wünscht mir „Abenteuer und Ruhe, je nach Bedarf“.

Juni 2013: Frau B. schreibt eine Mail! Nun wechseln sich Briefe und Mails ab, ja, sie habe „mit 83 Jahren noch mit Mails, Internet + Tablet angefangen“. Ich bin begeistert. Sie schreibt, sie werde wohl „kein Computer-Freak werden. Aber es ist gut, dass ich es jetzt kann.“

November 2013: „Ich verzehre mich in Sehnsucht nach Japan. Der BR hat einige Sendungen über Japan und ich fühlte mich gleich wieder „da“.“ Ihre Tochter fährt als Begleitärztin eines Reiseveranstalters nach Chile und Argentinien mit, „sie ist ein Südamerika-Kind. Ich tendierte mehr nach Asien.“

Sie schreibe auf der Tastatur wieder so schnell wie früher. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich sie auf Reisen mitnehmen kann. Und bin hin- und hergerissen: Schmerzt es nicht, wenn man nicht mehr reisen kann und so viel vom Reisen hört? Aber sie hat ohnehin die XY abonniert und liest meine Reportagen, sie ist meine treuste Leserin. Einmal schreibt sie: „Mein „Neid“ ist unermesslich: Nordnorwegen! Ich liebe es so sehr und habe solche Sehnsucht dorthin“ Einmal habe sie Weihnachten auf den Lofoten verbracht und ein anderes Mal, 1983, „hat mich ein guter Freund am Schopf aus einer Wechseljahrsdepression gezogen und mich mit auf ein Postschiff genommen, Februar/März. War kalt und stürmisch incl. kleiner Havarie und Seekrankheit und eine der verrücktesten und schönsten Reisen, die ich gemacht habe.“ Schon als Kind habe sie sich „in den Namen Trondheim verliebt“ und sich als 8-jährige vorgenommen, dorthin zu reisen. „Und Trondheim ist so gewesen, wie ich es mir vorgestellt hatte.“

Aber nun verlässt Frau B. die Wohnung kaum noch. „Sind Sie aus Thailand zurück? Ach, ich beneide Sie so. Ich habe Frühlingsreiselustgelüste, Sehnen im Herzen!“ Parkinson hindert sie am Briefeschreiben, „wie gut, dass ich jetzt online kann“, fügt sie an.

September 2014: „Jetzt haben Sie Ihre Hüttenwanderung wohl schon hinter sich. DAS ist es, was ich jetzt am meisten vermisse. Wandern war eben mein Leben. Ich habe jede Gelegenheit, das heißt, jede freie Zeit genützt, das Rucksäckelchen genommen und weg. Meine Mutter fand das gar nicht gut. Das tat man nicht.“

Januar 2015: Sie liest eine Schottland- Reportage von mir. „Auch ich habe den Ben Nevis angefasst, allerdings im Sommer, an einem wunderschönen Tag. Aber ich merkte rechtzeitig, dass es für mich, Mitte Siebzig, zu viel wurde. Dann saß ich wie Dornröschen auf einem Stein mitten auf einer Wiese und genoss den Tag. 3 Mal waren wir dort. Immer zu sechst, mit einem VW Bus, ne Rentnergang. Jede Fahrt war anders, und jede aufregend und jede schön. Und nun habe ich genug, um mich zu erinnern.“

Die handschriftlichen Briefe hören auf. Einem der letzte legt sie einen handgeschriebenen „Irischen Reisesegen bei“. May the road rise to meet you. May the wind be always at your back. May the sun shine warm upon your face…. Das Blatt hängt bei mir an der Wand, neben der Weltkarte.

Mai 2015: „Ich weiß nun, warum ich so eine passionierte Wanderin geworden bin: Mein Großvater war oft zu Fuß unterwegs, um Vieh zu kaufen. Manchmal durften wir mit, ich hab das immer sehr genossen. Später hatte sich meine Mutter eine Erziehungsmaßnahme ausgedacht: Wenn sie mich strafen wollte, musste ich zu Fuß zur Schule gehen. Auf den Calvarienberg nach Ahrweiler. 1/2 Stunde, die Ahrallee entlang. Ich habe diesen Weg geliebt! Aber ich habe es ihr nie gesagt. Sie wusste auch nicht, dass ich manchmal von selbst zu Fuß ging, wenn mir danach war.“

Juni 2016: „Der Rechtsruck allenthalben bedrückt mich sehr. Und die Unwetter! Mich bedrückt, dass ich nicht mehr helfen kann. 1963, bei der großen Flut war ich in Holland dabei. Auch wenn ich an die Flüchtlinge denke: Ich sitze zu Hause und kann nichts tun. Höchstens ein bisschen spenden.“

September 2016: „Meine Freundin tadelte mich wegen meiner anstrengenden Urlaube und meinte, ich solle mal eine Kur machen. Wie gut, dass ich das nur eine gewonnene Woche mal gemacht habe! Aber die Sonnenuntergänge – in aller Welt -, die kann mir niemand mehr nehmen!“

Februar 2017: Frau B. erzählt, wie sie Buchhändlerin wurde, sie fängt in einer Leihbuchhandlung an. „Man konnte sich für 1 bis 5 Groschen ein Buch ausleihen. Es gab kaum Bücher zu kaufen, Lizenzen, Papiermangel etc. Ich lernte viel über Literatur und das Leben. Dann: 1948! Währungsreform. Die Leute hatten Geld. Es gab Bücher zu KAUFEN. Und dann der 2. Knall: Irgendein Verleger in Hamburg hatte so ne verrückte Idee und brachte Bücher im Zeitungsformat raus. RoRoRo – Rowohlts Rotations Romane. Irre. Und diese bücherähnlichen Dinger waren billig: DM 1.-. Und was für tolle Bücher es gab! Amerikanische, französische Literatur. Ich wusste: das war der Tod des Leihbuchhandels. Ich sagte, dass ich eine Lehre machen wolle, als Buchhändlerin. Die Familie tobte.“

Mai 2017 „Es gehört sich nicht, so etwas per Mail zu schreiben, verzeihen Sie. Aber es ist vorbei. A. lebt nicht mehr, es ist unfassbar. Weg, einfach weg. Vielleicht kann ich Ihnen später berichten. Jetzt fehlen Worte und Kraft.“

Ihre Tochter ist bei einem Unfall ums Leben gekommen. Ich frage mich, wie die alte Dame darüber hinwegkommen soll.

Juli 2017: Frau B. beginnt, alte Geschichten aufzuschreiben, gibt Interviews als Zeitzeugin der Kriegs- und Nachkriegszeit in Köln.

„Der Musiklehrer. Herr Hildebrandt. Fast alles was ich über die theoretischen Grundlagen der Musik weiß, habe ich von ihm gelernt. Er kam aus der ärmsten Ecke Bad Neuenahrs. Die Neuenahrer lachten über ihn.

Dann kamen die Nationalsozialisten an die Macht. Er erkannte seine Chance, lief immer in SA-Uniform herum. Er hatte bald das Musikleben unter sich, war Musiklehrer, leitete einen Chor und das Orchester der Hitlerjugend. Seine verrückteste Idee. Er wollte Händels Messias zu einem Loblied auf den Führer umdichten. Der Krieg verhinderte, dass er sein ‚Werk‘ vollenden konnte. Er setzte sich in den letzten Kriegstagen mit den andern lokalen Nazigrößen über den Rhein ab. Nach Bad Neuenahr ist er nicht wieder zurückgekehrt.

Er war der verblendetste Mensch, den ich kannte.“

Einmal schreibt sie: „Jetzt bin ich die Älteste, die Letzte, die Matriarchin, eine aus einer anderen Zeit – und muss immer noch Fragen beantworten. Und komme mir oft vor, wie ‚ The Old man of Skye‘, eine alleinstehende Felsnadel auf der Insel.“

Frau B. erzählt viel von ihrer Familie, von ihren Enkeln und Urenkeln. Sie schickt mir Fotos, ich verliere den Überblick und traue mich nicht zu fragen, wer nun wer ist. Aber ich lese daraus, wie aufgehoben sie in ihrer Familie ist. Sie lebt weiterhin alleine, bekommt oft Besuch.

Dezember 2017: „Die Liparischen Inseln. Wir schmierten uns mit dem Schlamm ein und sprangen dann ins Meer. Am späten Abend unter einem unvergesslichen Sternenhimmel.

Nun habe ich keinen mehr, mit dem ich diese Erinnerungen teilen kann.

Aber es nicht herrlich, dass ich das alles erleben durfte. Und auch, dass ich mich so glücklich daran erinnern kann!? Ich spüre noch dieses Licht und dieses Prickeln auf der Haut – im Norden und im Süden.

Ein gutes Neues Jahr wünscht Ihnen Ihre A.B.“

16. März 2020

Die Pandemie. „Mir geht es wie immer, ich bin ja nun schon lange in ‚Quarantäne‘, aber eben jetzt verschärft. Ich mag schon gar nicht mehr darüber reden. Die Kinder kommen nicht. Ausnahmezeiten. Die Natur zeigt uns ihre Macht. Wie ist‘s bei Ihnen? Seien wir vernünftig und zuversichtlich.“

Februar 2021: „Froh bin ich nicht darüber, aber etwas beruhigt, dass Sie Arbeit haben, auch wenn ich Sie lieber unterwegs sähe. Ich war stinkesauer auf Corona, dass das mir meinen 90. versaut hat. Wir haben immer so gerne, laut und innig gefeiert. Für meine Tochter haben wir den 60. Gottseidank noch einmal zu so einem großen Fest gestaltet. Mit fast 100 Leuten. Und die erinnern sich noch heute daran und sagen: gut, dass ihr das gemacht habt!“

April 2021: „Eine Journalistin möchte mit mir für den WDR zusammenarbeiten. Der Gedanke allein belebt mich schon. Diese meine Lebensphase als ‚Zeitzeugin ‚ hat mir so viel gegeben, geschenkt.“

Juni 2021: „Borkum: Meine Großmutter und alle Großtanten und Mama und Papa und alle Onkels und Tanten führen immer nur nach Borkum. Als sie zum 50. Mal dort waren, bekamen sie eine Urkunde. Nach dem Krieg war es vorbei mit dem sommerlichen Aufbruch mit großen Koffern und mit Finchen und einem Hausmädchen.

Vor allem Heribert war DER Liebling meiner Großeltern. Er saß eines nachts um 4 Uhr auf dem Klo und sang aus voller Brust das Deutschlandlied! Ein 4jähriger! Woher kennt ein Kind das? Als ich mich nach dem Krieg mit Borkum näher beschäftigte, wurde mir das auch klar. Borkum war immer schon sehr rechts gesinnt und extrem judenfeindlich. Im Borkumlied heißt es: von Juden frei der Nordseestrand… Ich habe mich gefragt, ob das der Grund war, dass die Familie so an Borkum hing.“

8. 6.2021: „Es geht mir nicht mehr gut. Ich bin 91 und habe ständig Schmerzen, nehme sehr starke Tabletten, aber die wirken nicht immer. Ich kann mich dann nicht bewegen, fühle mich wie in Beton gegossen und es braucht manchmal über eine Stunde, bis ich mich mit vorsichtigen Übungen ‚befreit ‚ habe. Genug des Jammerns.“

Ich schreibe Frau B., dass ich nun auch nach Borkum fahren und ihr berichten werde. Als ich zurück bin, bekomme ich eine Mail:

„Liebe Wegbegleiter, wir möchten Ihnen und Euch mitteilen, dass A.B. – unsere liebevolle und fürsorgliche Großmutter, Urgroßmutter und Schwiegermutter – verstorben ist. Sie sprach häufig von ihrer „letzten Wegstrecke“, die nun vollbracht ist, nach nunmehr 91 Jahren.

Zuletzt hatte sie mir einige Wochen zuvor geschrieben: „Ich freue mich für Sie, dass Sie endlich wieder reisen können. Ich kann es nicht mehr, aber bin froh, dass ich es früher gemacht habe und wenig auf später verschoben habe. Ich grüße und beneide Sie von Herzen, Ihre A.B.

P.S.: Ich bin neidlos neidisch.“

Wir danken dem Sponsor der Columbus-Autorenpreise 2022

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